Marie Eugenie Delle Grazie, * 14. August 1864 Ungarisch-Weißkirchen (Banat, heute: Bela Crkva) † 18. Februar 1931 Wien, Schriftstellerin (Lyrikerin, Erzählerin, Dramatikerin).
Biografie
Die älteste Tochter des aus einer alten venezianischen Patrizierfamilie stammenden Bergbaudirektors Cäsar delle Grazie (1817–1872) und dessen Frau Maria (geborene Melzer, 1847–1927) verbrachte ihre frühe Kindheit im Banat und den Karpaten. Sie hatte einen jüngeren Bruder (Ambrosius, * 1866) und eine jüngere Schwester, die im Kindesalter starb. Anfang 1872 starb auch der Vater, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte und der ihr mit seiner Liebe zur Poesie ein wichtiges Vorbild war. 1874 zog die Mutter mit den beiden Kindern nach Wien, wo Marie Eugenie delle Grazie die Mädchenbürgerschule und für ein Jahr die Lehrerinnenbildungsanstalt besuchte.
Literarisches Werk
Delle Grazie schrieb schon als Kind Gedichte. Ihr literarisches Talent wurde früh von dem Theologen und Philosophen Laurenz Müllner, den sie 1875 als Freund der Familie kennenlernte, entdeckt und gefördert. Ein erster Band "Gedichte" erschien 1882 und wurde sehr positiv aufgenommen. Insbesondere in die früheren Texte flossen Erinnerungsbilder der heimatlichen Landschaft ein. In etwa fünfzig Jahren literarischen Schaffens entstand ein thematisch und formal sehr diverses Œuvre.
Für die frühe Tragödie "Saul" (1885) wurde delle Grazie das Literaturstipendium der Schwestern-Fröhlich-Stiftung zuerkannt. Im selben Jahr erschienen die Erzählung "Die Zigeunerin" und das Heldengedicht "Hermann". Dem Epos "Robespierre" (1894), das dem Österreichischen Biographischen Lexikon als "das beste Werk des österr. Realismus"[1] gilt, widmete sie ihre Zwanziger. Die "realistisch-psychologische[] Figurenzeichnung"[2] brachte ihr Vergleiche mit Dostojewskij und Marie von Ebner-Eschenbach ein.
Nach dieser Phase der intensiven Beschäftigung mit historischen Stoffen verfasste delle Grazie in den folgenden Jahren etliche gesellschaftskritische Erzählungen und Dramen, darunter der Einakter "Moralische Walpurgisnacht" (1896) und das als naturalistisch bezeichnete Stück "Schlagende Wetter" (1899), das im Bergbaumilieu spielt und 1900 am Deutschen Volkstheater in Wien uraufgeführt wurde. 1901 erhielt sie den Bauernfeldpreis, 1906 den Volkstheater-Preis.
Nach dem Tod ihres Mentors Laurenz Müllner wandte sich delle Grazie 1912 dem Katholizismus zu. Die christlichen Romane, die sie von da an hauptsächlich verfasste, fanden weder bei der zeitgenössischen Literaturkritik noch bei ihrem Verlag Anklang. Für "Das Buch der Liebe" erhielt sie 1916 den Ebner-Eschenbach-Preis, an ihre Bekanntheit als vielgelesene Autorin der Jahrhundertwende konnte delle Grazie bis zu ihrem Tod 1931 jedoch nicht mehr anschließen.
Vernetzung, Vereine, Mitgliedschaften
Wie Ebner-Eschenbach war delle Grazie vom Gründungsjahr 1885 an Mitglied im Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, sie trat jedoch 1895 aus. Von Mitte der 1880er Jahre bis 1900 versammelte sie in einem samstäglichen Salon gemeinsam mit Laurenz Müllner einen Kreis von Schriftstellern und Theologen, dem etwa die Schriftsteller Fritz Lemmermayer und Johann Fercher von Steinwand sowie der spätere Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner angehörten.
In ihrem in der Wienbibliothek im Rathaus bewahrten Nachlass, der mehr als 2.000 Inventarnummern umfasst, finden sich besonders viele Briefe des deutschliberalen Politikers und Ethikers Bartholomäus von Carneri und des Zoologen Ernst Haeckel, die sich beide intensiv mit Darwins Lehren befassten und eine monistische Weltanschauung vertraten, die delle Grazie jahrelang teilte. Damit und mit Teilen ihres Werks nicht konsistent war sie wie ihre Freundin Emilie Mataja und Marie von Najmájer Mitglied der deutschnationalen Schriftstellervereinigung "Iduna", die sich gegen Naturalismus und Jung-Wien positionierte. Marianne Baumgartner zufolge mag dies eher auf die verglichen mit Jung-Wien größere Zugänglichkeit der "Iduna" durch persönliche Kontakte als eine ideologische Nähe zurückzuführen sein.
Quellen
- Meldezettel von Marie Eugenie Delle Grazie (WStLA, BPD Wien: Historische Meldeunterlagen, K11)
- Wienbibliothek im Rathaus: Nachlass Marie Eugenie Delle Grazie
- Wienbibliothek Digital: Marie Eugenie Delle Grazie
- Marie Eugenie delle Grazie: Mein Lebensweg. In: Dies.: Dichter und Dichtkunst, S. 72–84
Literatur
- Ilse Korotin [Hg.]: biografiA. Lexikon österreichischer Frauen. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2016
- Marianne Baumgartner: Der Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien (1885–1938). Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2015
- Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859–1914. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 1999
- Ariadne – Österreichische Nationalbibliothek: Frauen in Bewegung 1848–1938 (Marie Eugenie delle Grazie) [Stand: 13.12.2024]
- Österreichisches biographisches Lexikon 1815–1950. Hg. von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / Wien / Graz: Böhlau 1954-lfd.
- Wilhelm Kosch: Deutsches Theaterlexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch. Wien: F. Kleinmayr 1953
- Gerhard Renner: Die Nachlässe in der Wiener Stadt- und Landesbibliothek. Wien 1993
- Martha Zenner: Marie Eugenie delle Grazie. Diss. Univ. Wien. Wien 1932
- Alice Wengraf: Marie Eugenie delle Grazie. Versuch einer geistgemäßen biographischen Skizze. [Wien]: Selbstverlag 1932
- Literarisches Echo 3 (1900), S. 803 ff. (Selbstbiographie)
Marie Eugenie Delle Grazie im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.
Weblinks
- Wikipedia: Marie Eugenie Delle Grazie [Stand: 13.12.2024]
- Österreichisches Biographisches Lexikon: Marie Eugenie Delle Grazie [Stand: 13.12.2024]
- Neue Deutsche Biographie: Marie Eugenie delle Grazie [Stand: 13.12.2024]
- Österreichische Mediathek: Aufnahme von Marie Eugenie delle Grazie [Stand: 13.12.2024]
Referenzen
- ↑ Österreichisches Biographisches Lexikon: Delle Grazie, Marie Eugenie
- ↑ Marianne Baumgartner: Der Verein der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen in Wien (1885–1938). Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2015, S. 128