Reichsrat
48° 12' 28.76" N, 16° 21' 33.00" E zur Karte im Wien Kulturgut
Reichsrat.
Nach dem Grundgesetz über die Reichsvertretung (Beilage I zum Februarpatent vom 26. Februar 1861, Reichsgesetzblatt Nr. 20 / 1861)[1] bestand der Reichsrat aus zwei ausschließlich aus Männern bestehenden Kammern, dem Herrenhaus, dessen Mitglieder der Kaiser bestimmte, und dem Haus der Abgeordneten. Dieses bestand aus 343 Abgeordneten, anfangs von den Landtagen entsandt, später direkt gewählt. 140 Abgeordnete vertraten später nicht zu Altösterreich zählende Gebiete: Nach dem Wegfall lombardisch-venezianischer Abgeordneter 1866 und nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867, durch den ungarische, siebenbürgische und kroatische Parlamentarier wegfielen, verblieben im Abgeordnetenhaus 203 Abgeordnete (später wurde die Zahl in Verbindung mit der Erweiterung des Männerwahlrechts stufenweise bis auf 516 erhöht).
Der Reichsrat und der ungarische Reichstag hatten nach 1867 aus ihrer Mitte je eine Delegation zu stellen; in Cisleithanien aus 40 Abgeordneten und 20 Herrenhausmitgliedern gebildet. Die beiden Delegationen, die abwechselnd in Wien bzw. Budapest tagten, zugleich, aber räumlich getrennt, hatten gemeinsam mit dem Kaiser und König über die verpflichtend gemeinsamen Angelegenheiten der Realunion Österreich-Ungarn, der "Doppelmonarchie", zu entscheiden: die Außenpolitik, das Heer, die Kriegsmarine und die Finanzierung dieser Agenden). An diesen Beratungen nahmen die drei k.u.k. Minister (der Minister des kaiserlichen und königlichen Hauses und des Äußern; der Reichskriegsminister; der gemeinsame Finanzminister) teil. Freiwillig gemeinsame Regelungen (zum Beispiel Währung, Zölle, Patentwesen) beschlossen Reichsrat und Reichstag hingegen in ihrem jeweiligen Plenum.
Zur Vorberatung von Anträgen im Plenum des jeweiligen Hauses des Reichsrates wurden von beiden Häusern Ausschüsse eingesetzt (das Abgeordnetenhaus von 1861 hatte 44 Ausschüsse, das Herrenhaus 18 Kommissionen, die Delegationen fallweise gewählte Ausschüsse). Die Ausschüsse tagten unter Beiziehung der zuständigen k. k. Ministerien, die durch die Minister selbst oder hochrangige Beamte vertreten waren.
Die Parlamentarier des Abgeordnetenhauses selbst organisierten sich in so genannten Klubs, die im Lauf der Zeit an Zahl beträchtlich zunahmen und immer mehr Abgeordnete umfassten. Hatte es 1861 nur vier Parlamentsklubs (80 Unionisten, 70 Föderalisten, 30 Großösterreicher, 20 Deutsche Autonomisten) gegeben, so waren es 1911 bereits 36 Parlamentsklubs, in denen 514 der 516 Abgeordneten zusammengeschlossen waren (die kleineren Klubs waren überwiegend national ausgerichtet); die stärksten Klubs waren 1911 die Sozialdemokraten (82), die Christlichsozialen (76), die Czechischen Agrarier (38), die Deutsche Volkspartei (33), die Deutschagrarier (26), die Polnische Volkspartei (25), die Ruthenischen Nationaldemokraten (23), die Deutschradikalen (22), die Polnischen Konservativen (22) und die Deutschfortschrittlichen (21).
Das Abgeordnetenhaus des Reichsrates hielt am 29. April 1861[2] seine erste Sitzung ab, und zwar im provisorischen Abgeordnetenhaus vor dem Schottentor ("Schmerling-Theater"). Das Herrenhaus hielt seine Eröffnungssitzung am gleichen Tag ab, und zwar im Niederösterreichischen Landhaus. Beide Häuser des Reichsrats blieben bis zur Eröffnung des Reichsratsgebäudes an diesen Sitzungsorten. Für den Bau neuer Sitzungssäle beider Häuser waren auch getrennte Gebäude in Diskussion; man entschied sich aber letztlich für ein neues gemeinsames Bauwerk, das k.k. Reichsratsgebäude am damaligen Franzensring (1).
Die erste Sitzung im neuen Reichsratsgebäude, von Theophil Hansen gestaltet, fand für das Herrenhaus ebenso wie für das Abgeordnetenhaus am 4. Dezember 1883 statt. Beide Häuser bestanden bis 1918 ausschließlich aus männlichen Parlamentariern. Im Parlamentsgebäude spiegelte sich bis 1918 die Demokratisierung der "im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder", die mit starken Auseinandersetzungen zwischen Nationalitäten und Weltanschauungen verbunden war. 1907 waren zum ersten Mal alle volljährigen Männer wahlberechtigt.
Die letzte Sitzung des Herrenhauses fand am 30. Oktober 1918 statt und dauerte nur fünf Minuten, da die von Kaiser Karl I. am 27. Oktober neu bestellte Regierung von Heinrich Lammasch (die ihm am 10. und 11. November 1918 den Thronverzicht empfahl) nicht in der Lage war, eine Erklärung abzugeben. (Die Situation Altösterreichs war zu unübersichtlich geworden, nachdem sich Polen, Tschechen und Südslawen vom gemeinsamen Staat abgewandt hatten.) Die letzte Sitzung des Abgeordnetenhauses, an der nur mehr ganz wenige nichtdeutsche Abgeordnete teilnahmen, fand am 12. November 1918 statt, dauerte 10 Minuten und bestand aus einem Gedenken an den tags zuvor verstorbenen Abgeordneten Viktor Adler und der Schlussansprache des Präsidenten Gustav Groß; fünf vorliegende Ausschussberichte wurden nicht mehr erörtert. Da ein Auflösungsbeschluss gesetzlich nicht vorgesehen war, wurde auf Vorschlag von Präsident Groß beschlossen, keinen Termin für eine weitere Sitzung festzulegen.
Am gleichen Tag wurde von der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich, deren Plenum zum ersten Mal im nunmehr ehemaligen k.k. Reichsratsgebäude stattfand, die Republik ausgerufen und dies auf der Parlamentsrampe verkündet. Die Versammlung beschloss weiters, dass das Herrenhaus aufgelöst ist.
Die Provisorische Nationalversammlung, bestehend aus den im Jahr 1911 gewählten deutschsprachigen, männlichen Reichsratsabgeordneten, amtierte bis Februar 1919. Auf sie folgte am 4. März 1919 die am 16. Februar 1919 erstmals von Männern und Frauen (aber nicht in Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien und Südtirol) gewählte Konstituierende Nationalversammlung, die am 1. Oktober 1920 die ab 10. November 1920 gültige Bundesverfassung beschloss. Durch sie entstanden am 10. November 1920 Nationalrat und Bundesrat, ausgenommen 1933-1945 bis heute die beiden Elemente der Legislative auf Bundesebene. Das spätere Burgenland war davon anfangs noch nicht tangiert; es gelangte erst im Herbst 1921 von Ungarn zu Österreich.
Einzelnachweise
Protokolle
Die Stenographischen Protokolle beider Häuser des Reichsrates stehen auf der Website alex.onb.ac.at der Österreichischen Nationalbibliothek zum Lesen zur Verfügung.