Historischer Atlas von Wien – Demographische Entwicklung
Wien erlebte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein dynamisches Bevölkerungswachstum, welches sich nach der 2. Türkenbelagerung voll entfaltete. Der Höhepunkt des Wachstums lag allerdings im 19. Jahrhundert. Wie sich anhand der Bevölkerungsentwicklung der Pfarren und nach den heutigen Bezirks- und Stadtgrenzen zeigt bildeten im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die heutigen Bezirke Mariahilf und Neubau einerseits und die Leopoldstadt zwei Wachstumskerne, ehe sich nach 1850 das Wachstum immer mehr in die Außenbezirke verlagerte. In der Folge wurde der Arbeiterbezirk Ottakring und danach Favoriten der bevölkerungsreichste Bezirk Wiens. Die Bevölkerung Wiens war in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen pyramidenförmigen Altersaufbau gekennzeichnet der sich aus den hohen Geburtenraten, der Zuwanderung junger Altersgruppen und der niedrigen Lebenserwartung erklärt. In den Außenbezirken war um die Jahrhundertwende fast ein Drittel der Bevölkerung unter 14 Jahre alt. Schon in der Zwischenkriegszeit zeigt der Altersaufbau deutliche Veränderungen. Vor allem der Anteil der Kinder und Jugendlichen nahm deutlich ab, besonders in den Innenbezirken, schwächer in der Außenzone. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhöhte sich der Anteil der älteren und alten Bevölkerung kontinuierlich, der Kinderanteil ging nach und nach zurück, schwankte jedoch infolge des Babybooms der 1960er Jahre erheblich. Der Babyboom und der Zuzug junger Familien in die Außenbezirke mit hohem Anteil an neugebauten, geförderten Wohnungen sorgte jedoch in diesen Stadtteilen bis in die 1970er Jahre für relativ hohe Anteile der jüngsten Altersgruppen. Die Alterspyramide der Jahre vor 1914 ist jedenfalls einem urnenförmigen Altersaufbau gewichen der allerdings durch die Kriegstoten und Geburtenausfälle der beiden Weltkriege ausgeprägte Einbuchtungen zeigt. Die konfessionelle Gliederung der Bevölkerung war bei hoher Dominanz der Katholiken bis zu ihrer Vertreibung und Ermordung in der NS-Zeit durch eine hoch segregierte jüdische Minderheit gekennzeichnet, die sich auf die Bezirke 1, 2, 9 und 20 konzentrierte. Was den Geburtsort anlangt und sprachlich waren Zuwanderer aus den böhmischen Ländern, von diesen zunehmend Tschechen die wichtigste Minorität. Zuwanderer aus den böhmischen Ländern hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert einen Anteil von rund einem Viertel an der Wiener Bevölkerung. In der Zwischenkriegszeit sank dieser kontinuierlich ab. Die Wohngebiete dieser Minorität waren stärker über das Stadtgebiet verteilt mit einen gewissen Schwerpunkt in „Arbeiterbezirken“. Schon in der Zwischenkriegszeit verlor dieses Verteilungsmuster allerdings an Bedeutung. Eine vergleichsweise geringe Rolle spielte die protestantische Minderheit deren Anteil sich mit Ausnahme der NS-Zeit nicht wesentlich veränderte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten vor allem die „Gastarbeiterwanderung“ aus Jugoslawien und der Türkei das Bild. In deren Folge entwickelten sich die Moslems zur größten konfessionellen Minderheit. Durch die spezifische Wirkungsweise des Wiener Wohnungsmarktes waren diese und andere Arbeitsmigranten auf Wohnungen in schlechten gürtelnahen Zonen angewiesen. In der 2. Republik sank der Anteil ausländischer StaatsbürgerInnen um 1960 auf ein Minimum, um dann kontinuierlich wieder anzusteigen.
Die „Demographische Transition“ im Zeitraum von ca. 1870-1930 sorgte für einen Übergang von hohen Geburten- und Sterberaten zu entsprechenden niedrigen Werten. Den Hintergrund bildeten der epidemiologische Übergang und der Geburtenschwund. Die höchsten Geburtenraten wiesen im späten 19. Jahrhundert die südlichen und südwestlichen Bezirke auf, nach der Eingemeindung auch Floridsdorf. In der Zwischenkriegszeit war der Geburtenrückgang flächendeckend, das Fertilitätsniveau noch vergleichsweise am höchsten im Süden und Nordosten. Im Zuge des epidemiologischen Übergangs verschwand das traditionelle Seuchenmuster, noch bis in die 1870er Jahre geprägt durch Cholera, Pocken- und Typhusepidemien. In einer zweiten Phase sank in der Zwischenkriegszeit auch die Tuberkulosesterblichkeit. Die Verbreitung dieser chronischen Infektionskrankheit war lange Zeit durch die hohe Wohndichte befördert worden. Ende des 18. Jahrhunderts war die Wohndichte in der Pfarre Mariahilf besonders hoch. Von dort breitete sich ein Gebiet mit hoher Wohndichte in das Gewerbeviertel Schottenfeld aus. Besonders hohe Haushaltsgrößen bestanden entlang des Wientals, aber auch in der Inneren Stadt wegen der Hausdienerschaft und in der Leopoldstadt. Die Unterversorgung mit Wohnraum versinnbildlichten auch die hohen Anteile an Untermietern und Bettgehern, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zurück gingen. Noch um 1870 waren im damaligen Stadtgebiet durchwegs 15-20% der Einwohner Untermieter. Ihr Anteil sank kontinuierlich, blieb aber in den Innenbezirken bis um die Jahrhundertwende relativ hoch. Ganz ähnlich verlief die Entwicklung bei den Bettgehern, wobei bei dieser Gruppe der räumlichen Schwerpunkt in den Außenbezirken lag. Nach 1900 erlangte auch der säkulare Rückgang der Säuglingssterblichkeit immer größere Bedeutung. Der Geburtenrückgang war nicht zuletzt eine Folge des steigenden Bildungsgrades der Wiener Bevölkerung der etwa im völligen Verschwinden des Analphabetismus um und nach der Jahrhundertwende seinen Ausdruck fand. Der Anteil der Mittelschüler an der männlichen Bevölkerung lag am Vorabend des Ersten Weltkriegs in den Bezirken 1 und 4 bereits über 40%, im 10. Bezirk unter 10%, korrelierte also hoch mit dem Wohlhabenheitsgrad der Bezirksbevölkerung. In den Zwischenkriegszeit nahm die Zahl der Mittelschüler beiderlei Geschlechts bereits bedeutend zu, wobei der Anteil der Schüler und Schülerinnen jüdischer Konfession überproportional war.
Die Berufsgliederung der Wiener Bevölkerung war bis 1914 durch eine ausgeprägte Proletarisierung gekennzeichnet. Gleichzeitig nahmen ältere Beschäftigungsformen im häuslichen Dienst kontinuierlich ab. Der Anteil der Arbeiter an den Erwerbstätigen lag von ca. 1870 bis in die Zwischenkriegszeit in der überwiegenden Mehrzahl der Außenbezirke konstant über 70%. Gleichzeitig nahm auch die Bedeutung der Selbständigen ab. Sie behielten aber in den Innenbezirken eine erhebliche Bedeutung. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte dann eine „Verangestelltung“ der Wiener Erwerbsbevölkerung, deren Trend lediglich durch die Gastarbeiterwanderung in den 1970er und 1980er Jahren verlangsamt wurde.
siehe auch Historischer Atlas von Wien
Karten
Bevölkerungsentwicklung 1783-1939
Altersgliederung der Bevölkerung 1869-2001
Konfessionelle Gliederung der Bevölkerung 1869-2001
Zuwanderung und Nationalität 1880-2001
Bildungsgrad und Berufsgliederung 1869-2001
Fertilität, Mortalität, Krankheiten 1831-1938
Literatur
- Andreas Weigl, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Kommentare zur Historischen Atlas von Wien 1), Wien 2000
- Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 13, Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1980
- Josef Ehmer, Produktion und Reproduktion in der Wiener Manufakturperiode. In: Renate Banik-Schweitzer [u.a.], Wien im Vormärz. Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 8, Wien: Deuticke 1980, 107-132.
- Andreas Weigl, „Unbegrenzte Großstadt“ oder „Stadt ohne Nachwuchs“? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder, Peter Eigner, Andreas Resch, Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum (=Querschnitte 12), Studien Verlag, Innsbruck [u.a.] 2003, 141-200.
- Hellmut Ritter, Andreas Weigl, Zeitreihen zu Bevölkerung, Gesundheitswesen und Umwelt in Wien 1945-2001, in: Statistische Mitteilungen 2002/2+3, 5-51.