Wiedergründung der Israelitischen Kultusgemeinde
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Wiedergründung der Israelitischen Kultusgemeinde
Mord an Mitarbeitern des "Ältestenrats"
Nur wenige Stunden bevor die Rote Armee am 12. April 1945 die Wiener Leopoldstadt erreichte, wurden dort noch immer Jüdinnen und Juden ermordet. Zehn Bewohner eines „Judenhauses“ in der Förstergasse 7 wurden in einem nahegelegenen Bombentrichter von der SS erschossen. Die Ermordeten waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des vom NS-Regime 1942 errichteten „Ältestenrats“ und hatten unter vorgehaltener Pistole mithelfen müssen, die kümmerlichen Reste der einst drittgrößten jüdischen Gemeinde in Europa zu verwalten. Ein beklemmendes Bild der letzten Kriegstage aus der Perspektive von Kindern schuf Ilse Aichinger mit dem Roman „Die größere Hoffnung“.
Der vom NS-Regime eingesetzte „Ältestenrat“
Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ im März 1938 war der Zionist Josef Löwenherz Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG). Er wurde nicht deportiert, sondern von Adolf Eichmann persönlich gedemütigt und zur Kooperation gezwungen. Über die Kriegsjahre hinweg trug er diese schwere Bürde, vielfach hätte er die Möglichkeit gehabt, sich ins Ausland abzusetzen, aber aus Verantwortungsgefühl blieb er bei seiner Gemeinde. Zur Beschleunigung der Ausreise entstand im Juli 1938 die von Adolf Eichmann geleitete „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“. Bis Mai 1939 hatte das NS-Regime bereits an die 130.000 Jüdinnen und Juden zum Verlassen ihrer österreichischen Heimat gezwungen und ihnen dabei ihre gesamte Habe abgepresst. Im Oktober 1941 begannen die Massendeportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Mittel- und Osteuropa. An die 65.500 österreichische Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Die stetig kleiner werdende Gruppe der in Wien Verbliebenen musste ab September 1941 zur öffentlichen Kennzeichnung ihrer Ausgrenzung den gelben „Judenstern“ tragen. Nach Beendigung der Deportationen wurde die IKG aufgelöst und am 1. November 1942 durch den „Ältestenrat“ ersetzt. In Wien lebten fast nur noch durch sogenannte „Mischehen“ geschützte „Mischlinge“ oder „Geltungsjuden“, wie sie in der NS-Terminologie genannt wurden. Trotzdem mussten sich viele von ihnen ab 1943 versteckt halten, was infolge der Bombenangriffe zu weiteren Traumatisierungen bei den Überlebenden führte. Hinzu kamen noch als „privilegierte Juden“ die Angestellten des „Ältestenrats“ sowie das Personal des jüdischen Spitals und des jüdischen Altersheims. Unter den in Wien Überlebenden gab es auch jene, die während der NS-Zeit als „Rechercheure“, „Ausheber“ oder „Ordner“ gezwungenermaßen mit der SS kooperiert hatten. Sie hatten sich eine kurze Spanne Leben durch das Aufspüren von gesuchten Jüdinnen und Juden erkauft. Unter diesen „Aushebern“ waren auch ehemalige Angestellte der IKG, bei Zuwiderhandeln drohte ihnen selbst der Tod. Der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici resümiert: „Wer glaubte, in Wien wäre es möglich gewesen, einen jüdischen Widerstand zu organisieren, der hat keine Ahnung von den Bedingungen, die damals hier herrschten. Der Widerstand, nämlich der jüdische, war nicht aufzubegehren. Der Widerstand musste lauten, so viele Menschen wie möglich zu retten.“
Neugründung der Israelitischen Kultusgemeinde
Bereits im Frühjahr 1945 trafen die ersten KZ-Überlebenden in Häftlingskleidung in Wien ein. Diese Displaced Persons (DP) begegneten dort jenen Jüdinnen und Juden, die entweder nicht deportiert worden waren oder den Krieg in Verstecken überlebt hatten. Ende Dezember 1945 repräsentierte die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) 3955 Mitglieder, darunter 1727 Überlebende der Vernichtungslager sowie 252 Remigranten. Nur 1.927 Personen hatten den Krieg in Wien überlebt. Unmittelbar nach der Befreiung Wiens durch die Rote Armee betraute Bürgermeister Theodor Körner weiterhin Josef Löwenherz mit der Führung der IKG, doch dieser wurde gemeinsam mit anderen Funktionären wenige Tage später von den sowjetischen Behörden verhaftet und unter die Anklage der Kollaboration gestellt. Nach einer langwierigen Untersuchung durch die Alliierten durfte Löwenherz nach New York ausreisen. Interimistischer Leiter der IKG war nunmehr Benzion Lazar von der religiös-zionistischen Vereinigung „Misrachi“. Am 18. Mai 1945 schlug die KPÖ ihren Funktionär Bernhard Wächter als IKG-Leiter vor, doch der jüdische Kommunist David Brill (Sekretär von KPÖ-Chef Johann Koplenig in der Staatskanzlei) hielt diesen für ungeeignet und befürwortete Lazar. Die österreichische Handelskammer protegierte Aron Moses Ehrlich, den Vorsitzenden der Jüdischen Kaufmannschaft. Schließlich ernannte Ernst Fischer am 16. Juni 1945 den Arzt Heinrich Schur zum provisorischen IKG-Leiter, als Beirat wurde Lazar bestätigt. Nach internen Unstimmigkeiten setzte Fischer am 24. September 1945 Schur und Lazar ab und stattdessen seinen Vertrauten David Brill als Nachfolger ein. Zu seinen Beiräten wurden die Kommunisten Akim Lewit und Bernhard Braver ernannt. Die IKG-Leitung arbeitete in provisorischen Amtsräumen am Schottenring 25, dem früheren Palais Goldschmidt. In ihre Räumlichkeiten in der Seitenstettengasse 4 konnte sie erst später wieder einziehen. Hinzu kamen das jüdische Spital in der Malzgasse 16, das jüdische Altersheim in der Malzgasse 7, das jüdische Kinderspital und -heim in der Mohapelgasse 3, die Notausspeisung in der Kleinen Pfarrgasse 8, eine Leihbibliothek und diverse Werkstätten. Das Bad in der Floßgasse 14 war wegen Bombenschäden noch außer Betrieb. Auch die Friedhöfe waren zerstört und viele Grabsteine geraubt worden. Da der Staat keinerlei Mittel zum Wiederaufbau der IKG zur Verfügung stellte, war diese auf amerikanische Institutionen wie dem Joint Distribution Committee oder der Jewish Mothers League angewiesen
Die ersten IKG-Wahlen nach dem Krieg
Nach einer Bereinigung des IKG-Wahlstatuts erfolgten am 7. April 1946 die Kultuswahlen. So wurde das passive Wahlrecht für Frauen eingeführt, an die 4000 Wahlberechtigte wählten 36 Kultusräte. Benzion Lazar hatte sich mit seiner Gruppe der Sammelliste Jüdische Einheit unter Brill verweigert, die auf 33 Mandate kam. Hier versammelten sich unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Zionist David Schapira und der Sozialdemokrat Wilhelm Krell. Somit handelte es sich noch nicht um eine KPÖ-nahe Liste, dies war sie erst bei der Wahl 1948. Dennoch blieb Brills Führungsanspruch nicht unangefochten, denn bei der ersten Sitzung des Kultusrats am 14. April 1946 übernahm der aus dem KZ Theresienstadt zurückgekehrte Generalmajor Emil Sommer – quasi als „Alterspräsident“ – eigenmächtig den Vorsitz zur Konstituierung des Gremiums. Danach kam es zu einer Kampfabstimmung um den IKG-Vorsitz zwischen dem Legitimisten Sommer und dem Kommunisten Brill, die letzterer mit 25:8 bei drei Enthaltungen für sich entschied.
Wiederaufbau jüdischer Infrastruktur
Da der Wiederaufbau in totaler Abhängigkeit von amerikanischen Hilfsorganisationen erfolgte, erschien vielen IKG-Mitgliedern trotz aller Dankbarkeit für die „Befreier von Auschwitz“ eine dauerhafte Abhängigkeit von der Sowjetunion als kontraproduktiv. Die Verwaltung gewann unter Brill maßgeblich an Effizienz, doch peinliche Fehlleistungen wie etwa die Unkenntnis des jüdischen Kalenders lösten Proteste der Religiösen aus. Ärgernis erregten auch Beitrittsansuchen von Nichtjuden aus, die als religiös indifferent betrachtet wurden, sich aber Vorteile erhofften. Das gegenteilige Phänomen bildete der 1932 aus der IKG ausgetretene Kritiker Hans Weigel, der es nach 1945 ablehnte, sich als „Jude“ zu fühlen oder so bezeichnet zu werden. Erst mit der Ankunft des aus Ungarn kommenden neuen Oberrabbiners Akiba Eisenberg gab es 1948 wieder einen autorisierten Religionsunterricht. Die Überalterung war groß, es gab so gut wie keine Hochzeiten oder Geburten. Der Sportverein Hakoah wurde rasch wiederbegründet, um die Jugendarbeit zu forcieren. Eine neu errichtete „Chewra Kadischa“ sorgte für die rituelle Bestattung der Toten und die Betreuung ihrer Hinterbliebenen. Für Verunsicherung sorgte die Wiederbetätigung unbelehrbarer Nationalsozialisten per Flugzettel und Wandparolen, wie sie in Polizeiberichten verzeichnet ist. Am 11. April 1948 ging die Jüdische Liste aus der Kultuswahl der inzwischen etwa 7000 Gemeindemitglieder als Siegerin hervor. Doch deren kommunistische Orientierung wurde mehrheitlich abgelehnt. Zum neuen IKG-Präsidenten wurde Schapira von der der zionistischen Jüdischen Föderation gewählt, der eine Koalition mit dem sozialdemokratischen Bund Werktätiger Juden um Wilhelm Krell und Emil Maurer einging. Ab 1952 stellte der „Bund werktätiger Juden“ für drei Jahrzehnte den Präsidenten.
Der Kampf der IKG um die Anerkennung der rechtlichen Ansprüche von Überlebenden
Die im Mai 1945 konstituierte Fürsorgeorganisation „Volkssolidarität“ betreute die ehemals politisch verfolgten Heimkehrer, doch die Jüdinnen und Juden blieben davon ausgeschlossen, da sie aus „rassischen“ Gründen vertrieben wurden. Ebenso ausgeschlossen blieben sie vom Anfang 1946 gegründet Bund der politisch Verfolgten, kurz „KZ-Verband“ und als Entschädigungsberechtigte. Am 10. Februar 1946 konstituierte sich das Aktionskomitee der jüdischen KZler, die in enger Kooperation mit der IKG eine Änderung des Opferfürsorgegesetzes anstrebte. Die am 2. September 1947 in Kraft getretene Novellierung brachte zwar die Anerkennung der Verfolgung wegen „Abstammung, Religion und Nationalität“, doch der Weg zu ohnehin nur sehr geringen Entschädigungszahlungen blieb von bürokratischen Hindernissen gezeichnet. Auch von Gedenkfeiern in ehemaligen NS-Konzentrationslagern wurde der jüdischen Ermordeten lange Zeit nicht gedacht.
Quellen
- Bestand IKG, in: Kultusamt im Bundeskanzleramt, 4740/V/45
- Protokolle der Plenarsitzung des Kultusvorstandes, 1945–48, in: IKG-Archiv Wien
Literatur
- Evelyn Adunka, Die vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis heute. Berlin/Wien 2000
- Ruth Beckermann: Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945. Wien 1898.
- Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Wien 1995.
- George Langnas (Hg.), Mignon. Tagebücher und Briefe einer jüdischen Krankenschwester in Wien 1938–1949, Innsbruck 2020.
- Manfred Mugrauer, Die Jüdische Gemeinde als Politikfeld der KPÖ (1945–1955), in: Sabine Bergler/Gabriele Kohlbauer (Hg.), Genosse. Jude. Wir wollten nur das Paradies auf Erden. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, Wien 2017.
- Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000.
- Oliver Rathkolb: Zur Kontinuität antisemitischer und rassistischer Vorurteile in Österreich 1945/1950, in: Zeitgeschichte 5/1989, 167–179.