Tuberkulose (der Lunge), Schwindsucht, "Wiener Krankheit".
Die Tuberkulose war ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wegen ihres geradezu endemischen Auftretens in Wien als "Morbus Viennensis" (Wiener Krankheit) bekannt, dessen Opfer 1787 sogar der medizinische Kliniker Maximilian Stoll wurde. Sein Nachfolger Johann Valentin Edler von Hildenbrand tendierte bereits dazu, die Tuberkulose unter die ansteckenden Krankheiten zu rechnen.
1811 starben im Allgemeinen Krankenhaus von 12.374 Patienten 758 an Tuberkulose. 1815 wurden von 11.520 Todesfällen 2.859 der Tuberkulose zugeschrieben. Der Pflasterstaub und sogar das Walzertanzen während des Wiener Kongresses wurden als Ursachen der Tuberkulose angesehen. Für Joseph Skoda, der die von Leopold von Auenbrugger entwickelte Untersuchungsmethode der Lunge (Perkussion) 1839 auf Basis der Befunde des Pathologen Carl von Rokitansky entscheidend verbessert hatte, wurde 1840 im Allgemeinen Krankenhaus durch Ludwig Freiherr von Türkheim eine eigene "Abteilung für Brustkranke" geschaffen. 1867 starben 26,5 % der Wiener an Tuberkulose, 40-50 % aller Betten der medizinischen Abteilungen der Wiener Spitäler waren mit Tuberkulosepatienten belegt. Daher setzte sich der Skoda-Schüler Leopold Schrötter-Kristelli energisch für die Errichtung einer Tuberkulose-Heilstätte für Erwachsene ein, die er allerdings erst 1898 in Alland (Niederösterreich) eröffnen konnte.
Seit Robert Koch (1843-1910) in Berlin 1882 den Tuberkulosebazillus entdeckt hatte, war die Ansteckungsangst enorm gestiegen. Im selben Jahr befasste sich der Wiener Pathologe Anton Weichselbaum in experimentellen Studien mit dem Tuberkulose-Übertragungsmodus durch Inhalation.
1907 konnte der Pionier der Allergieforschung, der Pädiater Clemens von Pirquet, den Tuberkulin-Hauttest in die Tuberkulose-Diagnostik einführen. Der Wiener Pathologe Anton Ghon beschrieb 1912 den noch heute nach ihm benannten "Primärkomplex". 1913 entfielen immer noch 20,7 % der Wiener Todesfälle auf Tuberkulose. Bereits 1911 war durch den Sozialmediziner Ludwig Teleky das "Österreichische Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose" begründet worden, das umso mehr an Bedeutung gewann, da nach dem Ersten Weltkrieg (1919) wie 1867 wieder jeder vierte Wiener an Tuberkulose starb.
Die Verhältnisse waren in den Arbeiterbezirken schlechter als in den bürgerlichen Bezirken (so lag die Sterblichkeitsquote 1904 im ersten Bezirk bei 9,35 je 1000 Bewohner, in Ottakring bei 21,11 und in Favoriten bei 26,44, von je 1000 verstorbenen Tischlern erlagen 139 der Tuberkulose; in Bezirken mit ärmeren Bewohnern lag die Sterblichkeitsziffer an Tuberkulose um 1900 bis zu 340 % über jener des ersten Bezirks). Durch den Anatomen und Stadtrat für Wohlfahrtswesen Julius Tandler begann in den 1920er Jahren die Bekämpfung der Volksseuche Tuberkulose unter Einsatz von städtischen Budgetmitteln (während der Bund 1923 für Tuberkulosefürsorge nur 80.000 Schilling aufwendete, setzte die Gemeinde Wien eine Viertelmillion Schilling ein; Tuberkulosefürsorge, Gesundheitsamt).
Erst die Entwicklung chirurgischer und chemotherapeutischer Verfahren ermöglichte nach dem Zweiten Weltkrieg die wirksame Bekämpfung und Beherrschung der Tuberkulose. Das "Pulmologische Zentrum der Stadt Wien" auf der Baumgartner Höhe (14) besitzt Wiens größte Tuberkulose-Abteilung (vgl. Pulmologie).
Literatur
- Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit". Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 2007 (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, 32)
- Brigitta Schader: Schwindsucht - zur Darstellung einer tödlichen Krankheit in der deutschen Literatur vom poetischen Realismus bis zur Moderne. Frankfurt am Main / Wien: Lang 1987 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur, 981)
- Erna Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Wien [u. a.]: Böhlau 1965 (Studien zur Geschichte der Universität Wien, 6), S. 46 f., 280, 569 f.
- N.N.: Bemerkungen ueber das Civilspital Wien und die Vieharzneischule nebst eingestreuten Reflexionen ueber Mediziner und Medizinalanstalten in Wien. Wien: Jonas 1788, S. 94ff.
- M. Schmidt: Von den Ursachen der häufigsten Lungensuchten. In: Gesellschaft Wiener Ärzte: Gesundheits-Taschenbuch für das Jahr 1801. Wien: Schaumburg 1801, S. 61 ff.
- Johann Valentin von Hildenbrand: Ratio medendi in schola practica Vindobonensi. Band 1. Wien: Binz 1809, S. 158
- Johann Friedrich Osiander: Nachrichten von Wien über Gegenstände der Medicin, Chirurgie und Geburtshilfe. Tübingen: Selbstverlag 1817, S. 28 ff.
- Anton Weichselbaum: Experimentelle Untersuchungen über Inhalations-Tuberkulose. In: Centralbibliothek für die medizinischen Wissenschaften 20 (1882), S. 338 ff.
- Leopold von Schrötter: Über den gegenwärtigen Stand der Frage der Errichtung einiger Heilstätten für die Tuberculose. In: Allgemeine Wiener medizinische Zeitung 37 (1892), S. 167 f., 178 ff.
- Clemens Pirquet: Der diagnostische Wert der kutanen Tuberkulinreaktion bei der Tuberkulose des Kindesalters auf Grund von 100 Sektionen. In: Wiener klinische Wochenschrift 20 (1907), S. 1123 ff.
- Ludwig Teleky: Die Sterblichkeit an Tuberkulose in Österreich 1873-1907. In: Statistische Monatsschrift 1906, S. 145 ff.
- Anton Ghon: Der primäre Lungenherd bei der Tuberkulose der Kinder. Berlin / Wien: Urban & Schwarzenberg 1912
- Sigismund Peller: Zur Kenntnis der städtischen Mortalität im 18. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Säuglings- und Tuberkulose-Sterblichkeit. In: Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten 90 (1920), S. 227 ff.
- Erna Lesky: Meilensteine der Wiener Medizin. Große Ärzte Österreichs in drei Jahrhunderten. Wien: Maudrich 1981, S. 166 ff.
- Felix Czeike: Sozialgeschichte von Ottakring 1840-1910. In: Wiener Schriften 2 (1955), S. 39 f.
- Wilhelm Hecke: Die Sterblichkeit an Tuberkulose und Krebs in Wien im Jahre 1904 nach Berufen. Wien: Gerlach & Wiedling 1907, S. 81 f.