Kanalstrotter
Der Begriff Strotter (vom Altwiener Ausdruck strotten = in Abfällen herumsuchen) bezeichnet Personen die, um Geld zu verdienen, die Wiener Kanalisation nach Metallresten, Knochen und Fettresten absuchten. Strotter wurden um 1900 von den Journalisten Max Winter und Emil Kläger beschrieben, die sie bei ihrer Arbeit in der Kanalisation entlang des Wienflusses begleiteten.
Mit der großräumigen Regulierung des Wienflusses und dem Bau der Sammelkanäle entstand Ende des 19. Jahrhunderts ein weitläufiges Kanalsystem unter der Stadt. Die Not brachte einige Menschen dazu, in den Abwässern nach verwertbaren Gegenständen zu suchen. Sie gehörten zu den ärmsten Bewohnern Wiens, viele von ihnen waren obdach- und arbeitslos oder versuchten, ihr unzureichendes Gehalt mit dem Strotten aufzubessern.
Zwei Arten von Strottern können unterschieden werden. Metallstrotter suchten mit Harken oder an Stöcken befestigten Sieben im feinen Sediment der Kanäle nach Münzen, abgebrochenen Messerklingen und anderen Metallstücken. Diese versuchten sie dann zu verkaufen. Knochen- und Fettstrotter siebten Fett, Fleischreste und Knochen aus dem Wasser der Kanäle. Die Knochen wurden anschließend getrocknet und mit dem Fett an Seifenproduzenten verkauft. "Wenn jemand auf einen Gulden kommen will, muss er sechzig, siebzig Kilo hochschleppen. Da gehört Humor dazu", zitiert Max Winter 1902 in einer Reportage einen Kanalstrotter. Ein Gulden entspricht dem heutigen Wert von etwa 20 Euro.
Die sogenannten fliegenden Brücken bezeichneten einen hallenartiger Raum, in dem mehrere Kanäle auf unterschiedlichen Ebenen fließen. Sie waren ein bevorzugter Arbeitsplatz der Strotter. Auf seinen Erkundungstouren sah der Journalist Emil Kläger Haufen von Metall in den Gängen, über denen die Initialen der Strotter mit Kreide an die Wände geschrieben waren. Obdachlose Strotter übernachteten in kleinen Schächten, die zu den "fliegenden Brücken" führen. Andere Unterkünfte befanden sich in den Vorräumen zur Kanalisation unter den Brücken des Donaukanals und in den ehemaligen Aufenthaltsräumen der Arbeiter während des Ausbaus der Kanalisation. (Siehe auch Küche, Schmittn, Zwingburg)
Neben den Strottern hielten sich auch hunderte Griasler (Altwiener Ausdruck für Obdachlose) in der Kanalisation auf, die ihnen Schutz vor Wind und Kälte bot. Ihr Leben war der ständigen Bedrohung durch plötzlich auftretenden, starke Hochwässer der Wien ausgesetzt. Die Hochwässer füllten die Kanäle, fluteten Unterkünfte im Kanalsystem und schwemmte Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten, in den Wienfluss. Emil Kläger lässt in seinem Buch "Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens" einen Obdachlosen zu Wort kommen der die Situation folgendermaßen schildert: "San a schon a paar Griasler umkommen auf dö Weis, in den Schmutz dasoff’n, der eahna Z’haus g’wesen is."
Ab den 1930er Jahren wurde das Strotten durch Einsätze der Kanalbrigade noch beschwerlicher und führte häufig zu Verhaftungen. Die Kanalbrigade kontrollierte das Kanalsystem und suchte unter anderem nach Waffenlagern und Fluchtwegen politischer Aktivisten. Von den letzten Strottern wurde in den 1950er Jahren berichtet. Auch wurde das Strotten im Vergleich zum Betteln auf der Straße immer weniger rentabel.
Literatur
- Alexander Glück: Unter Wien. Auf den Spuren des dritten Mannes durch Kanäle, Grüfte und Kasematten. Berlin: Ch. Links 2001
- Alexander Glück: Wiener Unterwelten. Künstler, Schnüffler, Gruft-Entfeuchter. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2012
- Maria Hornung, Sigmar Grüner: Wörterbuch der Wiener Mundart. Wien: Öbv & Hpt 2002
- Emil Kläger: Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens. Ein Wanderbuch aus dem Jenseits. Wien: Mitschke 1908
- Otto Krammer: Wiener Volkstypen. Von Buttenweibern, Zwiefel-Krowoten und anderen Wiener Originalen. Wien: Braumüller 1983, S. 42 f.