Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky
48° 11' 1.61" N, 16° 22' 28.33" E zur Karte im Wien Kulturgut
Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky. Den ersten Versuch, eine neue Buchhandlung in Wien zu gründen, starteten die Brüder Philipp und Wilhelm Suschitzky im Oktober 1900. Philipp Suschitzkys Ansuchen um eine Konzession zum Betrieb einer Buch- und Antiquariatsbuchhandlung mit Leihbibliothek in Favoriten wurde allerdings von der k.k. n.ö. Statthalterei zunächst abgelehnt. Die durchaus kuriose Begründung lautete, dass es keinen Lokalbedarf gebe – wohlgemerkt in einem Bezirk, in dem nicht nur 120.000 Menschen lebten, sondern auch keine einzige Buchhandlung existierte.
Der Einspruch beim k.k. Ministerium des Innern verhalf dem Brüderpaar ein Jahr später doch noch zum Erfolg. Am 1. Oktober 1901 wurde laut Handelsregister der Gesellschaftsvertrag für eine offene Handelsgesellschaft aufgesetzt, am 11. März 1902 die Firma "Brüder Suschitzky" handelsgerichtlich protokolliert. Die erste Buchhandlung in Favoriten war gegründet. Bald darauf kam zur Buchhandlung noch der "Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky" hinzu. Benannt nach dem sozialkritischen Schriftsteller Ludwig Anzengruber, wurde diese Unternehmenserweiterung allerdings nicht im Handelsregister vermerkt.
Da sie finanziell gut ausgestattet waren und eine Marktlücke in Favoriten zu schließen hofften, erwarteten die Suschitzkys eine positive Entwicklung ihrer Geschäfte. Zunehmend aber hatten sie mit politischem Gegenwind zu kämpfen, der in erster Linie aus der antijüdischen Haltung ihrer Gegner herrührte. In einer Bezirksratssitzung vom 30. Dezember 1910 brachte ein christlichsozialer Abgeordneter einen – nicht protokollierten – Antrag ein, in dem die Brüder Suschitzky beschuldigt wurden, pornografische Literatur zu führen – gemeint waren Bücher über die sexuelle Aufklärung. Der nachfolgende Streit zwischen Buchhandlung und Bezirksvertretung wegen Ehrenbeleidigung wurde vor dem Bezirksgericht Favoriten ausgetragen. Zeugen malten den angeblichen sittlichen Verfall im Ladengeschäft der Suschitzkys derart aus, dass die drei angeklagten Mitglieder des Bezirksrats Stefan Semrad, Johann Cimbal und Johann Riß schließlich freigesprochen wurden.
Im Frühjahr 1919 trat der Geschäftsführer des Anzengruber-Verlags Wilhelm Suschitzky an diverse Behörden heran, weil er den wachsenden Verlag aus dem 10. Bezirk ins Zentrum der Stadt verlegen wollte. Gleichzeitig suchte er um eine Konzession für den Betrieb einer Verlags-, Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung im 1. Bezirk an. Das Ansuchen wurde allerdings abgelehnt und aufgrund der bereits bestehenden rund 250 Unternehmen erneut mit mangelndem Lokalbedarf begründet. Auch eine Berufung konnte den abschlägigen Bescheid nicht mehr ändern.
Nach jahrelanger schwerer Depression und vermutlich auch angesichts der sich zuspitzenden politischen Verhältnisse nahm sich Wilhelm Suschitzky am 18. April 1934 das Leben. Als Gesellschafterin trat nun seine Witwe Adele Suschitzky in die Firma ein, die Änderung wurde am 4. Juni 1935 im Handelsregister protokolliert.
Bereits während des Ständestaats dürfte es im Unternehmen zu Beschlagnahmungen in größerem Umfang gekommen sein. Der "Anschluss" besiegelte das Schicksal der Firma dann endgültig und beide Gesellschafter begaben sich auf die Flucht: Philipp Suschitzky setzte sich nach Frankreich ab und Adele Suschitzky floh nach London. Die geplante Übernahme des Betriebs durch den langjährigen "arischen" Angestellten Johann Heger wurde abgelehnt, sodass die Liquidation des Unternehmens nicht mehr verhindert werden konnte.
In Abwesenheit beider Gesellschafter wurde im Oktober 1938 der Antrag auf Eröffnung des Konkurses über die Firma Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky gestellt. Das daraufhin eingeleitete Konkursverfahren zog sich über zweieinhalb Jahre hin, da der Verkauf der Lagerbestände nur langsam anlief und kaum Geld einbrachte. Mehr als vierzig Jahre nach der Gründung der Firma "Brüder Suschitzky" erfolgte am 9. Dezember 1941 schließlich ihre Löschung aus dem Handelsregister.
Produktion
In den beinahe 40 Jahren des Anzengruber-Verlags erschienen weit mehr als 150 Titel. Die Produktionsdichte schwankte allerdings stark. Nach einer Reihe von Publikationen während des Ersten Weltkriegs kam es zu einem größeren Titelausstoß unmittelbar nach Beginn der Ersten Republik. In den 1930er Jahren ging die Zahl der Neuerscheinungen dann bis 1938 merklich zurück.
Eine klare Programmlinie lässt sich angesichts der vielfältigen Produktion kaum erkennen. Romane, Novellen, Skizzen und Gedichte wurden ebenso veröffentlicht wie soziologische oder volkswirtschaftliche Schriften. Dazu kamen literarhistorische, philosophische, naturwissenschaftliche, medizinische, pädagogische oder politische Abhandlungen. Allerdings gilt ein Naheverhältnis des Verlags, der neben Wien einen Sitz in Leipzig hatte, zur österreichischen Sozialdemokratie als gesichert. Auch gehörten die Brüder Suschitzky zu den ersten österreichischen Verlegern, die sozialistische, monistische und pazifistische Literatur veröffentlichten. Viele Titel beschäftigen sich weiters mit Fragen rund um den Ersten Weltkrieg und dessen Folgen wie Ernährungsprobleme, Invalidität, Geschlechtskrankheiten oder Kriegerheimstätten. Auch sexuelle Aufklärung war ein Thema.
Dazu prägten verschiedene Schriftenreihen das Verlagsprogramm. Besondere Bedeutung kam etwa der Schriftenreihe "Der Aufstieg. Neue Zeit- und Streitfragen" zu, die 1917 ins Leben gerufen wurde und bis 1929 insgesamt 35 Nummern umfasste. Hier erschienen beispielsweise Werke von Paul Federn, Rosa Mayreder oder Josef Popper-Lynkeus. Auch Carl Colbergs "Flugschriften des 'Abend'" waren 1918/1919 bei Anzengruber in Kommission, darunter Bruno Freis Broschüre "Wiener Wohnungs-Elend". Bereits 1915 wurde die kurzlebige Reihe "Wiener Bücherei" ins Leben gerufen. 1926 wiederum erschien ein Jahr lang die von Franz Schuster und Franz Schacherl herausgegebene Zeitschrift "Der Aufbau. Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau".
Die politische Linie des Verlags zeigte sich auch in der Belletristik. Durchwegs wurden Autorinnen und Autoren engagiert, die eine kritische Position zur bestehenden Gesellschaft bezogen. Zu den ersten Autoren des Verlags zählte Alfons Petzold, der ebenso mit mehreren Büchern vertreten war wie Johann Ferch, Hugo Bettauer oder der kirchenkritische Priester-Schriftsteller Hans Kirchsteiger.
Außerdem brachte der Anzengruber-Verlag die erste Gesamtausgabe von Ferdinand Sauters Gedichten, verlegte eine Voltaire-Übersetzung, einige Werke von Fritz Wittels und vier Bücher des sozialkritischen Autors Karl Adolph. Als weitere Autoren sind Richard A. Édon, Christian Spanner-Hansen oder Jakob Moreno Levy zu nennen. Immer wieder erschienen auch Zeitschriften der jungen, kritischen Generation wie "Daimon" oder "Das Flugblatt".
Ab den 1930er Jahren wurde nur noch wenig Belletristik veröffentlicht. Allerdings startete der Anzengruber Verlag eine neue, von Hermann Hakel herausgegebene Schriftenreihe "Neue Dichtung" mit Werken von Rudolf Felmayer, Josef Pechacek, Ernst Lissauer, Marietta v. Bronneck und Alphons Solé. Das letzte im Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky nachgewiesene Werk stammt vom Musikkritiker und Volksbildner David Josef Bach und hieß "Der Kugelmensch" (1938).
Literatur
- Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938. Band II: Lexikon der belletristischen Verlage. Wien: Böhlau 1985 [Stand: 25.01.2021]
- Annette Lechner: Die Wiener Verlagsbuchhandlung "Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky" (1901–1938) im Spiegel der Zeit. Dipl.-Arb. Univ.-Wien 1994 [Stand: 25.01.2021]
- Österreichisches Biographisches Lexikon: Suschitzky, Wilhelm (1877–1934), Buchhändler und Verleger [Stand: 25.01.2021]