Ernestine Kraus
Ernestine Kraus, * 12. Dezember 1839 Gitschin, Böhmen (Jičín, Tschechische Republik), † 24. Oktober 1891 Wien.
Biografie
Ernestine Kantor war die (wahrscheinlich) älteste Tochter von Anna Fried und Ignaz Kantor, die 1836 in der Jičíner Synagoge heirateten. Ihr Vater galt als hochangesehener Arzt, der sich im Revolutionsjahr 1848 – da war er 40 Jahre alt und Vater von fünf Töchtern – als Mitglied der böhmischen Nationalgarde ›Svornost‹ engagierte. Später war er auch im Gemeindeausschuss der Stadt (ab 1850) und bei der Errichtung der Gemeindesparkasse aktiv und wurde ein Jahr vor seinem Tod zum leitenden Arzt des Stadtkrankenhauses von Nové Město (Neustadt) berufen. Die Familie Fried gehörte zu den ältesten jüdischen Familien der Stadt, war gut etabliert und lebte im Haus Nr. 100, einem der zentralsten und größten Häuser von Jičín. Auch Ignaz und Anna Kantor zogen dort ein und hatten nach Ernestine noch zahlreiche weitere Kinder: Zuerst kamen vier Mädchen – Pauline, Laura, Karoline und Johanna –, die später alle durch Heirat Teil des großbürgerlichen Wien wurden. Es folgten mit einem mehrjährigen Abstand drei Knaben. Der jüngste Bruder Gottlieb war erst sechs Jahre alt, als Ernestine 1860 bereits selbst Mutter wurde. Er war später mit einem nach ihm benannten Speditionsunternehmen höchst erfolgreich und wurde k.u.k. Hofspediteur. Ein weiterer Zweig der Jičíner Großfamilie Kantor – Nachkommen aus der ersten Ehe von Hermann Kantor – reüssierte ab den 1870er Jahren in Wien und begründete unter anderem das Bankhaus Theodor Kantor & Co. Insgesamt waren diese Verwandtschaftsbeziehungen zu zahlreichen etablierten Wiener Familien als gesellschaftliches Kapital um die Jahrhundertwende nicht zu unterschätzen.
Mit noch nicht ganz zwanzig Jahren heiratete Ernestine im August 1859 Jacob Kraus - das Paar blieb bei der Familie Kantor in Jičín, wo Kraus sein Geschäftsimperium aufzubauen begann. Dass die Familie gut situiert war zeigt sich zum einen daran, dass Otto von Bismarck 1866 im Haus von Jakob und Ernestine Kraus übernachtete - und zwar angeblich in jenem Zimmer, in dem Karl Kraus, der jüngste Sohn des Paares, acht Jahre später geboren wurde. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass angesichts der damals hohen Kindersterblichkeit wie auch trotz Krieg (vor der Haustür), Epidemien (etwa Cholera) und wirtschaftlichen Einbrüchen (wie der Börsenkrach 1873) nur ein Kind des Paares – Gustav (1869–1871), der dritte Sohn – mit eineinhalb Jahren starb.
Die wenigen Beschreibungen von Ernestine Kraus ordnen sie idealtypisch in die hegemoniale Geschlechterhierarchie um 1900 ein - als stille und fürsorgliche Ehefrau und Mutter wich sie offenbar nirgends auffällig von den Normen ihrer Zeit und Erwartungen ihrer Umgebung ab. Selbstverständlich bedurfte es jeder Menge unsichtbarer Arbeit, um diesem Ideal zu entsprechen. Abseits der körperlichen Anstrengungen von Schwangerschaft und Geburt alle zwei Jahre ab ihrem zwanzigsten Lebensjahr, hatte Ernestine Kraus - wie zuvor ihre Großmutter Josepha Fried und ihre Mutter Anna Kantor, mit der sie auch nach ihrer Heirat lange zusammenlebte - einen großen, bildungsbürgerlichen, jüdischen Haushalt mit Ammen, Kindermädchen, Gouvernanten, Hauslehrern, Köchinnen und anderen Hausangestellten zu führen und sicherzustellen, dass die alltägliche Versorgung und Betreuung funktionierte. Zu Hause dürfte Deutsch, Tschechisch, Jiddisch, Hebräisch und womöglich Französisch oder Englisch – die älteren Kinder hatten Gouvernanten – gesprochen worden sein. Jüdische Riten und Feste strukturierten das Leben einer in ihrer Gemeinde aktiven Familie und sicherlich achtete Ernestine als Frau des Gemeindevorstehers jedenfalls in Jičín noch auf Einhaltung der Essensvorschriften und engagierte sich wohltätig.
Der Umzug nach Wien im Alter von 38 Jahren brachte für das derart eingespielte Leben von Ernestine Kraus drastische Veränderungen. Mehrfach musste sie ihren gesamten Haushalt übersiedeln und neu einrichten lassen. In der Metropole verlor sie zugleich ihren Status als eine der wichtigsten Frauen Jičíns und gewann doch Prestige durch den Aufstieg in die Welt des Wiener Bürgertums. Ihre Schwestern und weitere in Wien lebende Verwandtschaft erleichterten den Umstieg sicherlich. Dennoch ist davon auszugehen, dass das Ankommen in der Großstadt Unruhe, Desorientierung und Anpassungsnotwendigkeiten an eine neue, nichtjüdische Umwelt mit sich brachte. Auch wenn die Familie Kraus nicht konvertierte, ging sie doch einen entscheidenden weiteren Schritt in Richtung Verbürgerlichung und Säkularisierung.
Ernestine Kraus dürfte sich in den ersten Wiener Jahren besonders auf ihre beiden jüngsten Kinder - Karl und Marie - konzentriert haben, die beide noch nicht in die Schule gingen. Besonders Karl Kraus' enge Bindung an seine Mutter wurde mehrfach beschrieben und zeigte sich auch in der Gewalt seiner Trauer, als sie am 24. Oktober 1891 an einem Luftröhrenkatharrh starb. Er war damals 17 und bewahrte bis zu seinem Tod ihren letzten Brief, ihre Todesanzeige, abgeschnittenes Haar der Toten ebenso wie Blatt von ihrem Grab. Ernestine Kraus wurde in einer Familiengruft auf dem Zentralfriedhof beigesetzt und ihr zum Gedenken wurde ein Goethe-Zitat, das wohl Karl Kraus aussuchte, in die Marmorplatte eingraviert: "Der ganze Gewinn meines Lebens / ist ihren Verlust zu beweinen."
Quellen
- AAC-FACKEL Online Version: Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Karl Kraus
Literatur
- Katharina Prager / Simon Ganahl [Hg.]: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J.B. Metzler 2022
- Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Zsolnay 2020
- Gilbert Carr: Demolierung - Gründung - Ursprung. Zu Karl Kraus' Frühen Schriften und zur frühen Fackel. Würzburg: Königshausen und Neumann 2019
- Georg Gaugusch: Wer einmal war A–K. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. Band 1. Wien: Amalthea 2011
- Leo A. Lensing: Brief über den Vater. Ein Brief des jungen Karl Kraus. Warmbronn: Keicher 2005
- Eva Bílkova u.a.: Karl Kraus in Jičín und Jičín in Karl Kraus. Katalog zur Ausstellung. Jičín 2004
- Leo A. Lensing: Chuzpe am Schreibtisch. Zur Biographie von Karl Kraus. In: Karl Kraus – jicinskyk rodak a svetoobcan / Karl Kraus – in Jičín geboren, in der Welt zu Hause, hg. v. Museum of Czech Literature. Semely 2004, 42–55.