Richard Kraus (1861–1909)
Richard Kraus, * 5. November 1861 Gitschin, Böhmen (Jičín, Tschechische Republik), † 1. November 1909 Wien, Papier- und Ultramarinfabrikant.
Biografie
Richard Kraus war der älteste Sohn von Jacob und Ernestine Kraus und wurde 1861 in der böhmischen Kleinstadt Jičín geboren, wo seine Vorfahren mütterlicherseits, die Kantors, schon über Generationen etabliert waren und sein Vater ein erfolgreiches Geschäftsimperium aufbaute. Richard, der als Nachfolger seines Vaters und zukünftiger Chef der Firma "Jacob Kraus" aufgebaut wurde, wurde bereits mit 14 Jahren, also um 1875, nach Wien geschickt, um dort die Handelsschule zu besuchen - wahrscheinlich nahmen die Schwestern seiner Mutter ihn auf, die alle ins großbürgerliche Wien eingeheiratet hatten. Der Rest seiner Kernfamilie folgte erst zwei Jahre später und dürfte sich in vielem auf Richard als bereits kundigen Wiener verlassen haben, wie familiäre Anekdoten belegen. Richard Kraus hatte offenbar überhaupt wenig Berührungsängste mit der großen Welt und kam auf seinen Reisen bis Kairo - weiter als seine Brüder und Schwestern.
Am 9. Mai 1889 heiratete er die in Plojesti (Rumänien) geborene Rachella Ergas, die der türkisch-israelitischen und seraphischen Gemeinde der Stadt angehörte. Die beiden hatten zwei Töchter. Ernestine - die Zweitgeborene - war nach ihrer Großmutter benannt worden und wurde "Nellie" gerufen. Verschiedenen Fotos nach zu schließen war sie eine mondäne junge Frau und gehörte zu jenen Familienmitgliedern, die ihr Onkel Karl Kraus besonders schätzte - er vermachte ihr Bücher aus seinem Besitz. Sie heiratet Herbert Lechner, Konsul in Prag und wurde zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer 15-jährigen Tochter Marie nach Theresienstadt deportiert und später in Maly Trostinetz ermordet. Nur ihr 1922 geborener Sohn Karl Egon Lechner, der sich in Lamberton umbenannte und später in der British Royal Airforce diente, überlebte im englischen Exil. Nellies ältere Schwester Lili heiratete in die Familie Mandl – eine der schillerndsten Familien des Wiener jüdischen Bürgertums ein. Ihr Mann Alfred Mandl starb 1926 in Prag nach einem schweren Unfall. Ihr weiteres Schicksal konnte noch nicht eruiert werden.
Für den Satiriker Karl Kraus war der um 13 Jahre ältere Bruder Richard - abseits seiner Lieblingsschwester Marie Turnowsky - die wichtigste Bezugsperson innerhalb der Familie und ein Vertrauter und geschätzter Berater, besonders nach dem Tod des Vaters Jacob Kraus. Richard Kraus unterstützte seinen jüngsten Bruder bei der Gründung der "Fackel" nicht nur materiell, sondern auch in juristischen Differenzen mit seinem ersten Verleger Moriz Frisch oder Sigmund Bergmann, dem Herausgeber der "Extrapost". Der Germanist und Kraus-Forscher Leo Lensing hat die Beziehung der Brüder Kraus, die Beziehung zum Vater und auch die Geschichten um die Gründung der "Fackel" in dem Band "Brief über den Vater" genau aufgearbeitet.
Der weltbürgerliche und souveräne, "berufsmäßig älteste Bruder" (so Karl Kraus) der Familie starb im November 1909 mit nicht ganz 48 Jahren an Herzmuskelentartung.
Quellen
- Wienbibliothek im Rathaus: Teilnachlass Karl Kraus
- Wienbibliothek Digital: Richard Kraus
- Wienbibliothek Digital: Adolph Lehmann’s allgemeiner Wohnungs-Anzeiger
Literatur
- Katharina Prager / Simon Ganahl [Hg.]: Karl Kraus-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J.B. Metzler 2022
- Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Zsolnay 2020
- Gilbert Carr: Demolierung - Gründung - Ursprung. Zu Karl Kraus' Frühen Schriften und zur frühen Fackel. Würzburg: Königshausen und Neumann 2019
- Georg Gaugusch: Wer einmal war A–K. Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938. 2 Bände. Wien: Amalthea 2011, S. 1545–1549
- Leo A. Lensing: Brief über den Vater. Ein Brief des jungen Karl Kraus. Warmbronn: Keicher 2005
- Eva Bílkova u.a.: Karl Kraus in Jičín und Jičín in Karl Kraus. Katalog zur Ausstellung. Jičín 2004
- Leo A. Lensing: Chuzpe am Schreibtisch. Zur Biographie von Karl Kraus. In: Karl Kraus – jicinskyk rodak a svetoobcan / Karl Kraus – in Jičín geboren, in der Welt zu Hause, hg. v. Museum of Czech Literature. Semely 2004, 42–55.
Richard Kraus im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.