Akademischer Verband für Literatur und Musik in Wien
Der Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien wurde 1908 von Studierenden gegründet. Laut Statuten bestand der Zweck "in der Pflege der Literatur, Musik und Schauspielkunst". Dazu sollten "öffentliche Veranstaltungen in zwangloser Aufeinanderfolge, auch Theaterabende und Orchesteraufführungen" dienen,[1] die an der Universität oder in angemieteten Sälen in Wien (etwa im Sofiensaal, im Ingenieur- und Architektenverein, dem Großen Beethovensaal oder dem Bösendorfersaal) stattfanden. Die Finanzierung erfolgte über Mitgliedsbeiträge, Spenden und die Einnahmen aus den Veranstaltungen.
Erster Obmann des Verbandes war der spätere Rechtsanwalt Max Sokal. Ihm folgte der Schriftsteller und Journalist Ludwig Ullmann; ab November 1911 löste diesen Erhard Buschbeck ab, der bereits seit 1910 als Schriftführer und danach ab November 1911 als literarischer Leiter amtierte. Als weitere Vorstandsmitglieder fungierten etwa Philipp Berger, Paul Stefan Grünfeld, Robert Müller, Emil Alphons Rheinhardt und Alexander Stern.
Programmatisch verfolgte der Verband das Ziel, "unabhängig von etwa vorgezeichneten Richtungen oder bestehenden Strömungen künstlerisch zu wirken, besonders aber dem Studenten einen größeren Anteil am Kunstleben und die Möglichkeit künstlerischer Betätigung zu verschaffen und dadurch eine Ergänzung der bestehenden wissenschaftlichen Vereine zu bilden".[2] Aus diesem Anspruch heraus entwickelte sich der Verband zu einer der bedeutendsten Adressen für die Verbreitung zeitgenössischer Kunst.
Die Programme mit Vortragsabenden, Lesungen, musikalischen Veranstaltungen und Ausstellungen zeigen bis 1913 ein breites wie auch ambitioniertes Spektrum, den tradierten und arrivierten Kulturbetrieb zu ergänzen und diesem aktuelle Entwicklungen entgegenzuhalten: Adolf Loos hielt einen Vortrag über sein umstrittenes Haus auf dem Michaelerplatz unter dem Titel "Ornament und Verbrechen", Oskar Kokoschka referierte über "Die Natur und Gesichte", Ausstellungen zum Futurismus und die Internationale Schwarz-Weiß-Ausstellung (mit Beteiligung u.a. von Lovis Corinth, Felix Albrecht Harta, Ludwig Heinrich Jungnickel, Oskar Kokoschka, Wilhelm Lehnbruck, Max Liebermann, Berthold Löffler, Emil Orlik, Egon Schiele und Max Slevogt) wurden durchgeführt.
Auf dem literarischen Programm standen beispielsweise eine Schnitzler-Feier, ein "Dänischer Abend" mit Lesungen von Karin Michaëlis und Peter Nansen, ein Rilke-Abend mit Ludwig Hardt sowie Veranstaltungen mit Egon Friedell, Albert Paris Gütersloh, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Alfred Polgar, Felix Salten, Jakob Wassermann, Frank Wedekind oder Stefan Zweig.
Bereits im Vorfeld für mediales Aufsehen sorgte eine Einladung an den in der Kritik stehenden Erfolgsschriftsteller Karl May, weshalb der Verband eine Umfrage durchführte, um seinen qualitativen Anspruch zu legitimieren. Unter den prominenten Unterzeichnern finden sich Schriftsteller und Publizisten wie Hermann Bahr, Maximilian Harden, Heinrich und Thomas Mann oder Alexander Roda Roda sowie die Friedensaktivistin Bertha von Suttner, die schließlich an Mays pazifistischer Rede mit dem Titel "Empor ins Reich der Edelmenschen!" im Wiener Sofiensaal am 22. März 1912 auch teilnahm. Bekanntheit erlangte dieser Vortrag schließlich als letzter öffentlicher Auftritt Karl Mays, der am 30. März 1912 verstarb.
Von 1910 bis 1912 hielt auch Karl Kraus insgesamt sieben Vorlesungen in Kooperation mit dem Akademischen Verband ab. Die Veranstaltung am 3. Mai 1910 war zugleich Kraus' erster Auftritt in Wien. Vorgetragen hatte er aus "Heine und die Folgen", "Die chinesische Mauer" und "Die Welt der Plakate". Die Einnahmen kamen wie in einer weiteren Vorlesung 1911 dem Asylverein für Obdachlose zu. Im Juni 1910 wurde das Programm um "Biberpelz" und "Das Ehrenkreuz" ergänzt. Ab Mai 1911 las Karl Kraus in den sehr erfolgreichen Vorlesungen auch verschiedentlich aus Werken anderer Autorinnen und Autoren, etwa Peter Altenberg, Else Lasker-Schüler, Detlev von Liliencron, Jean Paul, William Shakespeare, August Strindberg oder Frank Wedekind. Seine letzte Vorlesung für den Akademischen Verband fand am 2. Mai 1912 statt und war anlässlich von dessen 50. Todestag Johann Nestroy gewidmet. Neben Auszügen aus Nestroys Werken trug Kraus aus seinem noch unveröffentlichten Manuskript "Nestroy und die Nachwelt" vor.
Auf musikalischem Gebiet bemühte sich der Verband insbesondere um Arnold Schönberg und seinen Schülerkreis. Schönberg gastierte seit 1912 mehrmals, etwa mit einem Vortrag über Gustav Mahler, mit eigenen Kompositionen und als Dirigent. Für große Aufregung sorgte das "Große Orchester-Konzert" am 31. März 1913 im Großen Musikvereinssaal, bei dem sechs Orchesterstücke von Anton von Webern, zwei Orchesterlieder Alban Bergs nach Ansichtskarten von Peter Altenberg, Schönbergs Kammersymphonie op. 9, vier Orchesterlieder von Alexander von Zemlinsky sowie Gustav Mahlers "Kindertotenlieder" auf dem Programm standen. Diese Aufführung ging als "Watschenkonzert" in die Musikgeschichte ein, da der Mitorganisator Erhard Buschbeck nach Protesten einen Zuschauer ohrfeigte und das Konzert abgebrochen wurde.
Der Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien machte auch publizistisch auf sich aufmerksam. In den Jahren 1912 und 1913 wurde die Zeitschrift "Der Ruf. Ein Flugblatt an junge Menschen" herausgegeben. Diese frühexpressionistische Zeitschrift erschien in nur fünf Heften und wurde redaktionell von Paul Stefan, Erhard Buschbeck und Ludwig Ullmann betreut. Beitragende waren u.a. Peter Altenberg, Hermann Bahr, Else Lasker-Schüler, Adolf Loos, Alfred Polgar, Georg Trakl, Franz Werfel und Stefan Zweig. Zudem wurden Zeichnungen etwa von Gustav Klimt, Oskar Kokoschka und Egon Schiele veröffentlicht. Bereits 1910 erschien der Almanach "Vom Studium und vom Studenten", in dem von Studierenden (z.B. Mirko Jelusich und Ludwig Ullmann) auch Beiträge etwa von Hermann Bahr, Wilhelm Börner und Bertha von Suttner abgedruckt wurden. Zudem wurden – verbunden mit den Veranstaltungstätigkeiten des Verbands – 1912 "Das musikfestliche Wien" zur gleichnamigen Veranstaltung mit zwei Konzerten sowie 1913 ein (ursprünglich als Heft des "Ruf" geplanter) Katalog zur "Internationalen Schwarz-Weiss-Ausstellung" veröffentlicht.
Literatur
- Marianne Jobst-Rieder: "Radikale Richtung!". Erhard Buschbeck als Plakatsammler. Hinweise auf die Affichen des "Akademischen Verbands für Literatur und Musik" in der Flugblätter-, Plakate- und Exlibris-Sammlung der ÖNB. In: Mirabilia Artium librorum Recreant Te tuosque Ebriant. Dona natalicia Ioanni Marte oblata. Wien: Phoibos 2001 (= Biblos-Schriften, Bd. 177), S. 111–134
- Heinz Lunzer: Karl Kraus und der "Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien". Stefan H. Kaszyński, Sigurd Paul Scheichl [Hg.]: In: Karl Kraus –Ästhetik und Kritik. Beiträge des Kraus-Symposiums Poznán. München 1989, S. 141–178
- Werner J. Schweiger: Kokoschka spricht. Der Akademische Verband für Literatur und Musik in Wien. In: Ders.: Der junge Kokoschka. Leben und Werk 1904–1914. Wien, München: Edition Christian Brandstätter 1983 (= Schriftenreihe der Oskar Kokoschka-Dokumentation Pöchlarn 1), S. 209–233
- Paul Stefan: Das Grab von Wien. Eine Chronik 1903–1911. Berlin: Erich Reiss 1913
- Ludwig Ullmann: Der Kreis um den "Akademischen Verband für Literatur und Musik". In: Parnaß, Jg. 1 (September/Oktober 1981), H. 1, S. 72f.
- Ernst Hilmar: Arnold Schönbergs Briefe an den Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien. In: Österreichische Musikzeitschrift 31 (1976), H. 6, Österreichische Musik Zeitschrift, S. 273–290
- Walter Szmolyan: Schönbergs Wiener Skandalkonzert. Österreichische Musikzeitschrift 31 (1976), H. 6, S. 291–302
- Hans Wollschläger: Sieg – Großer Sieg. Karl May und der Akademische Verband für Literatur und Musik. In: Jahrbuch der Karl May-Gesellschaft 1970. Hamburg: Hansa-Verlag 1970, S. 92–97 [Stand: 22.04.2024])
Referenzen
- ↑ Statuten des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik in Wien. Wienbibliothek im Rathaus, Nachlass Erhard Buschbeck, ZPH 1828, Archivbox 2, 3.7.1.
- ↑ Vom Studium und vom Studenten. Ein Almanach. Hg. vom Akademischen Verband für Literatur und Musik in Wien. Berlin: Bruno Cassirer 1910, Anhang.