Wiener Fankultur (Fußball)
Dieser Artikel bietet einen Überblick über Geschichte und Kultur von Wiener Fußballanhängern. Ausgehend von den Anfängen der Anhängerkultur im neutralen bürgerlichen „sportsman“ bildete sich schon vor dem Ersten Weltkrieg der Typus des lokal und emotional gebundenen Vereinsanhängers heraus, dessen massierte Begeisterung zu den historischen Zuschauerhochs in den Wiener Stadien der Zwischenkriegszeit und den Jahren um 1950 führte. Beginnend mit den 1960er-Jahren (und verstärkt seit der Neoliberalisierung des Sports in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre) wurde der Vereinsanhänger durch einen Kundentypus von Zuschauer zu ersetzen gesucht. Nichtsdestotrotz sind seit den 1970er-Jahren die in der Tradition des Vereinsanhängers stehenden Jugendlichen Fansubkulturen (seit den 1990er-Jahren die Ultras) die optisch, akustisch und mancherorts auch zahlenmäßig bestimmenden Akteure in Wiens Stadien.
Herren mit Zylinder und "Plattenbuben"
Das Publikum der ersten Jahre des Wiener Fußballs bestand - gleich den Spielern und Funktionären der ersten Klubs (Vienna und Cricketer (1894), Wiener FC (1896) und WAC (Fußball-Sektion ab 1897) - aus Mitgliedern der Wiener britischen community bzw. bürgerlichen, teils adeligen Anglophilen der inneren Bezirke. Unter den Zuschauern waren der Herr mit Zylinder und Gehstock, die Dame mit drapiertem Hut und Schirm ein üblicher Anblick. Das Verhalten dieses Publikums war nach dem Vorbild der britischen bürgerlichen "sportsmen" eher neutral, liberal und sittsam.
Gleichzeitig bildete sich in den proletarischen und kleinbürgerlichen Milieus der Randbezirke eine zweite, in der Folge quantitativ, optisch, akustisch und aktionistisch dominierende Anhängerschicht heraus, deren Vertreter emotional an Nachbarschaft und Bezirk gebunden waren und ihre soziale Identität nicht unwesentlich aus dem Fußballverein schöpften, dem sie sich zugehörig fühlten und der ihre engere Heimat vertrat. Diese Vereinsanhänger stammten insbesondere aus den oft von Zuwanderern aus Böhmen, Mähren und anderen Kronländern der Monarchie geprägten Arbeitergrätzeln der Bezirke Favoriten, Simmering, Floridsdorf, Brigittenau, Meidling, Hernals, sowie jenen rund um die Schmelz (Ottakring, Rudolfsheim, Fünfhaus und Breitensee). Ihr Verhalten war eher parteiisch, lautstark, teils aggressiv und nicht selten auch gewalttätig.
Revierkämpfe, Widersetzlichkeit, Ausschreitungen
Vor allem Kinder und männliche Jugendliche der vorstädtischen Bezirke verbrachten ihre Freizeit anbetrachts beengter Wohnverhältnisse auf der Straße („Gassenbuben“), organisierten sich in „Platten“ genannten Cliquen, die auf den zahlreichen Brachflächen dieser Gegenden unter anderem als „wilde“ Teams Fußball spielten. Ballestern ohne Genehmigung war jedoch verboten und wurde polizeilich verfolgt. Das bestärkte auch in der entstehenden Fußballkultur der Vorstädte eine dort ohnehin ausgeprägte autoritätsfeindliche Grundhaltung (über die vor allem in diesen Bezirken aufkommende Sozialdemokratie auch politisch besetzt), die sich immer wieder bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär Bahn brach (Sechshauser Arbeiterkrawalle (1893), Ottakringer Teuerungsrevolte (1911), Julidemonstration (1927). Auch rivalisierten die lokalen Cliquen untereinander, mittels Fußballmatches wurden Territorien markiert, aber auch mit Gewalt, einem in proletarischen Milieus damals auch in den Familien üblichen Mittel zur Konfliktlösung.[1] In der Folge der Begeisterung in den Vorstädten für den Fußballsport bildeten sich auch dort Vereine, zuerst Erster Wiener Arbeiter Fußball-Club (Schmelz, 1897, ab 1899 Rapid), Erster Simmeringer Sportklub (1901), Rudolfshügel (Favoriten, 1902), Admira (Floridsdorf, 1905) und Wacker (Meidling, 1908). Anhänger dieser Vereine waren zunächst Angehörige, Freunde, Nachbarn bzw. Arbeits- und Stammtischkollegen der Spieler und Funktionäre.
Um die etablierten Teams spielen zu sehen pilgerten die „Wilden“ und deren Anhang vor allem auf die Jesuitenwiese, die Heimstätte der Cricketer. Aus Gersthof kamen spätere Stammkräfte des Wiener Sport-Clubs (WSC) wie Wilhelm Schmieger, aus Simmering die Gründer des 1. SSC und von der Schmelz die Ur-Rapidler. Aus dieser Zeit, also noch vor 1900, stammen die ersten Berichte über „Ausschreitungen“ jugendlicher Fußballenthusiasten (bei Spielen der Cricketer), wobei schon als „Rowdy“ galt, wer nur lautstark Partei ergriff. Mit dem Wettkampfcharakter, den der Wiener Fußball mit der Einführung der ersten Bewerbe im Cup (ab 1897) - und Meisterschaftsmodus (mehrere Versuche ab 1900), vor allem aber mit der ersten Meisterschaft im heutigen Verständnis in der Saison 1911/1912 annahm, sowie damit einhergehender gestiegener medialer Aufmerksamkeit und höheren Zuschauerzahlen (1914 besuchten bereits 20.000 Zuschauer ein Länderspiel gegen Ungarn), schärften sich die Vereinsvorlieben. Optische und akustische Unterstützung mittels Fähnchen in den Vereinsfarben und Ratschen kam auf, die Anstecknadel mit dem Emblem als nach außen sichtbares Erkennungszeichen der Vereinszugehörigkeit blieb den wenigen Vereinsmitgliedern vorbehalten. Auch erste Anfeuerungsrufe und Lieder (meist Vereinshymnen) waren zu hören. Diese wurden oft von Einzelpersonen, seltener von kleinen Gruppen angestimmt. Auch das Konfliktpotential im Publikum nahm zu. Am 29. Oktober 1911 kam es beim Spiel zwischen Wiener Associaton FC (WAF) und Rapid (1:2) zum ersten Spielabbruch aufgrund von Zuschauertumulten.
Groupies, Gentrifizierung, "Vereinstiger" und „Claquen“
In den frühen 1920er-Jahren entwickelte sich der Wiener Fußball zu einem bedeutenden Faktor der lokalen Unterhaltungs- und Alltagskultur, erreichte durch Professionalismus (ab 1924), Mitropacup (ab 1927) und Wunderteam (1931-1933) eine spezifische sportliche, soziale, mediale und wirtschaftliche Dynamik und Breitenwirkung. In einer von politischen und wirtschaftlichen Niederlagen (Kleinstaatlichkeit, Inflation, Arbeitslosigkeit, Februarkämpfe (1934) geprägten Zeit, bot das allwöchentliche Spektakel in den Stadien für die meist in prekären Verhältnissen lebende Bevölkerung Halt und Projektionsfläche für ein besseres, erfolgreicheres Leben. Erste Anhängervereinigungen entstanden (Wacker 1938), auch ein erster Dachverband nach englischem Vorbild bildete sich. Nachdem schon in der Monarchie Hunderte das Nationalteam vor allem nach Budapest begleitet hatten[2] begannen in der Zwischenkriegszeit auch Vereinsanhänger in größerer Zahl zu Spielen ins Ausland mitzureisen, oft unter großen Entbehrungen. Anhänger der Austria etwa gingen im Sommer 1933 sogar zu Fuß nach Mailand, um das Mitropacupfinale gegen Ambrosiana (Inter) am 3. September sehen zu können.[3]Mehrere, ausschließlich der Sportberichterstattung gewidmete Wochen- („Illustriertes Sportblatt“), ja Tageszeiten („Sport Tagblatt“) erschienen; die moderne Sportfotografie (Lothar Rübelt) entstand. Radio Wien begann ab 1927 mit der Live-Übertragung von Fußballspielen, was zur Etablierung des „Public Listening“ führte. Der Rapidler Josef Uridil wurde als erster Fußballer Werbeträger, Bühnen- und Filmstar. Wie bis dahin nur Stars aus Theater, Oper und Operette zog er auch Groupies an. Kulturschaffende schrieben und sangen über Fußball (Friedrich Torberg, Hermann Leopoldi) outeten sich als Anhänger eines Klubs und inszenierten diese Anhängerschaft medial (siehe Kaffeehausfußball). Fußball war abseits der ursprünglichen sportsmen und der Arbeitermilieus gesellschaftsfähig geworden, das führte auch zur Gentrifizierung von Teilen des Publikums.
In diesem Klima verstärkten sich aber auch die sozialen Vereinsidentitäten und -rivalitäten (unter anderem zwischen Rapid und den Amateuren (ab 1926 Austria, siehe Wiener Derby), teils mit antikapitalistischen (die „reichen“ gegen die „armen“ Vereine) und antisemitischen Untertönen (siehe Hakoah). Der faire sportsman der Kaiserzeit ging im gentrifizierten Teils des Publikums auf. Den dominanten Typus des Stadienbesuchers stellte nun der fanatische Vereinsanhänger, von der Presse „Vereinstiger“ genannt. Er - es handelte sich nach wie vor mehrheitlich um Männer - zeichnete sich durch unbedingte Vereinstreue, und, je nach Situation, durch Enthusiasmus oder Aggressivität (mitunter auch Gewaltbereitschaft) aus. Ausschreitungen häuften sich, insbesondere gegen Spieler von gegnerischen Mannschaften, aber auch unter rivalisierenden Anhängern. Es kam zu Spielabbrüchen, Verbot von Alkoholausschank und Stadionsperren (zum Beispiel 1921 der Hütteldorfer Pfarrwiese, der Heimstätte Rapids).
Auf den Stehplatzrampen der Sportplätze bildeten sich „Claquen“, kleine Stimmungsherde, die durch rhythmisches Klatschen und Sprechchöre auffielen. Die Wiener „Claqueure“ übernahmen dabei zum Beispiel den Takt des bei Länderspielen oft gehörten ungarischen Anfeuerungsrufs „Tem-pó Ma-gya-rok!“. Die Forschung nahm bisher an, dass dieser von der Forschung als „Soccer-Rhythmus“ bezeichnete Gleichklang nach dem Vorbild der Anfangstakte des Stücks „Hold Tight“ (1966) der Liverpooler Band "Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich" im „Spion Kop“, der legendären Fankurve des Liverpool FC, entstand. Tatsächlich sind eben die Budapester Fußballkultur der Habsburgermonarchie bzw. etwas später die Wiener Stadien der 1920er-Jahre die Wiegen des Soccer-Rhythmus.[4] Auf dem Rapid-Platz entwickelte sich daraus das bis heute weltweit einzigartige Klatschritual der „Rapidviertelstunde“. Gastspielreisen von Wiener Klubs oder von ÖFB-Auswahlen nach England und/oder Schottland (Hakoah (1923), Nationalteam (1932 und 1933), Rapid und Austria (1933), FC Wien (1935) führten zum Import britischer Anhängerfolklore (Kokarden und Schals (vorerst nur bei Spielern) in den Vereinsfarben).
Fußball- und lokalpatriotische Renitenz in der NS-Zeit
(Siehe auch Wiener Vereine in der NS-Zeit) Während Österreichs „Anschluss“ an den NS-Staat (1938-1945) und vor allem mit Fortdauer des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) veränderte sich die Zusammensetzung des Publikum und die Atmosphäre auf den Wiener Fußballplätzen. Zunächst fielen die Hakoah und wohl auch der Großteils ihres zahlreichen Anhangs der Judenverfolgung zum Opfer. Auch andere Klubs wurden entweder aufgelöst, oder verloren aufgrund ihrer Etikettierung als „jüdische“ Klubs (zum Beispiel Austria) bzw. politischer Verfolgung ihrer Mitglieder durch die NS-Behörden nicht nur Spieler und Funktionäre, sondern auch Anhänger. In der Folge blieben die nach wie vor weitgehend männlichen Vereinsanhänger auch kriegsbedingt aus, nur die (protegierten) NSDAP-Mitglieder, „ausgemusterten“, u.k. gestellten, oder alten unter ihnen konnten weiterhin Matches besuchen. Stattdessen fanden sich in Wien stationierte und rekonvaleszente Soldaten, Rüstungsarbeiter, vermehrt auch Frauen und insbesondere Kinder und Jugendliche bei den aus Propagandagründen unvermindert abgehaltenen Spielen ein. Doch selbst Jugendliche und Alte wurden ab 1943 zum „Volkssturm“ einrückend gemacht und fielen dadurch als Fans aus.
Im Gegensatz zu anderen (halb-) öffentlichen Räumen war es auf Fußballplätzen auch in der NS-Zeit möglich, sich im Schutz der Anonymität nonkonform zu verhalten. Teilweise wurde das sogar vom Regime geduldet, um oppositionelle Energien von der Straße fernzuhalten. Ausschreitungen blieben deshalb nach wie vor Bestandteil der Wiener Fußballkultur, waren allerdings vor allem Ausdruck der Ablehnung von deutschen Mannschaften, weniger politische Agitation. Im Selbstverständnis der Wiener Fußballanhänger galt es in erster Linie, das lokale Kulturgut „Wiener Schule“ zu verteidigen, welches nun von Berlin aus als rein deutsch definiert und verwaltet wurde. Dazu kam der Unmut der Wiener Bevölkerung über vom Regime gebrochene Wohlstandsversprechen, die sich verschlechternde Versorgungslage und schließlich den Krieg. Massive Randale „gegen die Piefkes“ war die Folge (vor allem bei Rapid gegen Fürth und Admira gegen Schalke (beides 1940). Wieder waren Jugendliche beteiligt, sogenannte „Schlurfs“. Darunter verstand man (auch abwertend) Nonkonformisten, die sich nicht durch die Hitlerjugend disziplinieren lassen wollten. Sie wurden von der GESTAPO als „Asoziale“ verfolgt und teils inhaftiert, in Arbeitslager eingewiesen oder frühzeitig zur Deutschen Wehrmacht einrückend gemacht.
Zuschauerschwund, Anhängervereinigungen & "Halbstarke"
Die kriegsbedingte Zerstörung alter Nachbarschaftsverhältnisse, ihre veränderte Neuordnung im Wiederaufbau und durch die Stadtplanung seit den 1950er-Jahren, führten - neben „Wirtschaftswunder“ und der Amerikanisierung des Alltags (mit neuen Freizeitangeboten wie TV, Fahrzeuge, Reisen) – zur Marginalisierung des bezirksgebundenen Vereinsanhängers und der tendenziellen Domestizierung der „Gassenbuben“ bzw. zum gleichzeitigen Aufkommen des konsumistisch orientierten Zuschauers. Auch verlor Österreich trotz letzter Erfolge der „Wiener Schule“ (3. Platz des Nationalteams bei der WM 1954) den Anschluss an die Entwicklungen im europäischen Spitzenfußball, was gemeinsam mit den erwähnten demografischen und sozialen Veränderungen in Wien zu einem langfristigen Zuschauerrückgang führte, der bis in die späten 1980er-Jahre anhalten sollte.
Nichtsdestotrotz bescherte ein letzter Popularitätsaufschwung dem Wiener Fußball um 1950 historische Zuschauerhochs (Doppelveranstaltungen in der Meisterschaft, Osterturniere, Mitropacup im Praterstadion), in welcher Phase sich auch neue Anhängervereinigungen gründeten (zuerst Klub der Freunde des S.C. Rapid (1951), danach unter anderem: Simmering, WAC und WSC (1952), Vienna und FC Wien (1953). Diese verpflichten sich vor allem zur materiellen Unterstützung ihrer Klubs und zur Förderung der Nachwuchsteams. Auch organisierten sie Auswärtsfahrten. 1954 rief man außerdem einen Dachverband nach englischem Muster, den „Verband der Fußballanhänger Österreichs ins Leben.“[5]
Mit den „Halbstarken“ - autoritätsfeindlichen, aber auch konsumorientierten Jugendlichen - die ihr Gruppenleben mittels Mode (Jeans, T-Shirt), Musik (Rock and Roll etc.) und die erwachsene Umwelt provozierendem Verhalten auf der Straße zur Schau stellten („Eckenstehen“ und „Stufenhocken“ wurde deshalb sogar per Gesetz unter Strafe gestellt), traten erste Vorboten der heutigen jugendlichen Fankultur auf den Plan. Durch ihr körperbetontes und ordnungskritisches Verhalten wurden die männlichen Halbstarken von der sie diffamierenden konservativen Presse auch mit der nach wie vor vorhandenen Zuschauergewalt bei Fußballspielen in Verbindung gebracht. Insbesondere war dies im Mai 1961, nach dem Abbruch des Halbfinales im Europacup der Landesmeister zwischen Rapid und Benfica Lissabon der Fall, als Ausschreitungen 63 Verletzte und ein teils demoliertes und in Brand gesetztes Praterstadion hinterließen.
Jugendliche Fansubkultur
Trotz einer neuerlichen Phase der Professionalisierung und Kommerzialisierung in den 1960er- und 1970er-Jahren (Wiedereinführung des Berufsspielertums bzw. verstärktes Engagement von Legionären, Namens- und Wappen- bzw. Trikotsponsoren (zuerst Admira (1959) bzw. Austria (1964), neue Bewerbsformate (Bundesliga ab der Saison 1974/1975), Maßnahmen zur Fanbindung („SC Rapid Fan-Club“ (1974) und moderne Stadien (Südstadt (1967), Weststadion (1977), konnte der Wiener Fußball weder an die Erfolge, noch an die Zuschauerzahlen der Zwischenkriegszeit und der Jahre um 1950 anschließen. Obgleich mit den erwähnten Maßnahmen eine komfort-, unterhaltungs- und konsumorientierte Klientel gewonnen werden sollte, blieb gerade diese (bis auf wenige internationale Spitzenspiele im Praterstadion (WSC-Real Madrid, 80.000 (1959), Rapid Wien-Glasgow Rangers, 70.000 (1964), Austria–Dinamo Moskau, 72.000 (1978) großteils weiter den Stadien fern, auch weil (Live-)Berichte von Spielen der Bundesliga in Funk („Sport und Musik“, ab 1967) und Fernsehen (ab Frühjahr 1979) das Matcherlebnis zumindest in Ausschnitten regelmäßig ins Haus lieferten.
In den Stadien selbst blieben die wenigen, zunehmend alternden Vereinsanhänger für üblich unter sich. Ab Ende der 1960er-Jahre bildete sich im liberalen Klima der Jugendbewegung (Pop-Musik im Radio Ö3 (ab 1967), Besetzung der Arena (1976), Bermudadreieck (ab ca. 1980), mit ihren nach angelsächsischem Muster entstehenden Subkulturen (insbesondere „Rocker“, etwas später „Punks“, „Mods“, „Skinheads“) auch in Wien eine Fansubkultur heraus: die „Fahnenschwenker“, so benannt nach den großen, selbstgenähten Fahnen in den Vereinsfarben, die sie auf den Stehplatzrängen schwenkten. Schon ab Mitte der 1950er-Jahren waren vereinzelt neue Formen der optischen und akustischen Unterstützung (größere Fahnen, Kappen, in den 1960er-Jahren dann Schärpen, Wimpel etc., Pyrotechnik (Raketen und Böller) aufgetaucht. Die Fahnenschwenker fielen nun eben durch ihre Schwenkfahnen, aber auch ihre Kostümierung (Schals, Trikots, später „Kutten“ (Jeansjacken oder -gilets mit aufgenähten Vereinsemblemen etc.), sowie durch von Vorsängern dirigierte Sprechchöre und Klatschrhythmen (unter Verwendung von Popmelodien und akustischen Verstärkern wie Fahrradhupen) auf, aber auch durch ihre Selbstbestimmtheit, ihre Widersetzlichkeit und latente Gewaltbereitschaft. Vandale- und Gewaltakte verstanden sie als Ausdruck von emotionaler Bindung an den und Unterstützung des eigenen Verein, womit sie das geistige Erbe der „Plattenbuben“, „Vereinstiger“, „Schlurfs“ und „Halbstarken“ und damit auch die Nachfolge des „zornigen jungen Mannes“ aus dem Proletariat antraten, der mit dem gesellschaftlichen Wandel der 1950er-Jahre verschwand. Die Jugendliche Fansubkultur stellte von nun an eine stets wachsende, zunehmend organisierte Publikumsschicht (erste als Vereine registrierte Fanklubs aus diesem Milieu entstanden 1970 („Austria Wien Anhängerklub“ (AWAK) und 1979 (SCR Fan-Club „Grüne Teufel“).
Neoliberalisierung, Fußballkonsumenten & Ultras
Nach einer kurzen Phase des Hooliganismus in den Anhängergeschichten der beiden verbliebenen Wiener Großklubs Rapid (einschließlich rechtsradikaler Tendenzen) und Austria in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, die auch zu mehreren Todesfällen (unter anderem nach dem Meisterschaftsspiel Salzburger AK - Rapid (1985) führten), insbesondere aber nach den Katastrophen von Heysel (ebenfalls 1985, 39 Tote) und Hillsborough (1989, 96 Tote), löste in den dominierenden jugendlichen Fansubkulturen Wiens das südländische Fanmodell der Ultras jenes der früheren deutschen und englischen Fankulturen als bestimmendes Vorbild ab. Auch das historische Zuschauertief dieser Jahre (in der Saison 1988/1989 kamen zu den Heimspielen von Publikumsmagnet Rapid im Schnitt nur 4.300 Zuschauer) könnte zu dieser Neuorientierung beigetragen haben. 1988 gründete sich mit den „Ultras Rapid Block West“ (UR) die bis heute älteste aktive Ultras-Gruppierung im deutschen Sprachraum. Seither ist das optische und akustische Stadionerlebnis in ganz Österreich zunehmend von ultrasorientierten Gruppen geprägt. Im Zentrum des sogenannten „Tifos“ (der Gesamtheit aller Unterstützungsmaßnahmen für die Mannschaft im Stadion) stehen dabei Formen optischen (Choreographien (zuerst 1991 von UR), Pyrotechnik, synchrone Bewegungen etc.) und akustischen Ausdrucks (von Vorsängern dirigierte und mit Trommeln rhythmisierte Fangesänge). Abseits des Spieltags pflegen auch die Wiener Ultras ein intensives Gruppenleben, in dem territoriale Ansprüche (auf die Stadt, bestimmte Stadtteile, den Bezirk) und Rivalitäten (Wiedererstarkung der Polarität Rapid gegen Austria) eine bedeutende Rolle spielen und unter anderem mittels künstlerischer (Graffiti) oder musikalischer (Rapid) Mittel ausgedrückt werden. Das antiautoritäre Selbstverständnis der ultrasorientierten Fangruppen, welches gesetzwidriges Verhalten und die Anwendung von Gewalt als Mittel zum Zweck zur Bewahrung autonomer Freiräume nicht ausschließt, führt dabei immer wieder zu Konflikten mit der Staatsgewalt.
Spätestens seit dem Fall Bosman (1995) wird auch der heimische Profifußball als Teil einer globalen Entwicklung zunehmend vom neoliberalen Wirtschaftsmodell geleitet, das Fußballvereine als Unternehmen definiert, die Spiele und auch Vereinsidentitäten als Produkte und/oder Dienstleistungen an möglichst viele Kunden (unter anderem die Stadionbesucher) möglichst oft und teuer verkaufen will. Insbesondere die Spitzenvereine Rapid und Austria bemühen sich deshalb um die Gewinnung zusätzlichen, konsumfreudigen und zahlungskräftigen Publikums (Familien, Kinder, Frauen, VIPs). Im Anschluss an die Wurzeln der Ultrasideologie in der linkspolitischen Protestbewegung Italiens der 1960er- und 1970er-Jahre und unter den Rahmenbedingungen des von ihnen sogenannten „modernen“ Fußballs, sehen sich ultrasorientierte Fangruppen auch in Wien als anhänger-, vereins- und gesellschaftspolitisch agierendes Wertekorrektiv und stellen sich in aktionistische Opposition zur eigenen Vereinsführung, zu Verbänden und der Fußballindustrie, um gegen die Neoliberalisierung des Fußballs aufzutreten.
Literatur
- Michael Almásy-Szabò: Von Dornbach in die ganze Welt. Wien: Verlagshaus Hernals 2010
- Domenico Jacono: Block West. In: Wo die Wuchtel fliegt. Legendäre Orte des Wiener Fußballs. Hg. von Peter Eppl u.a. Wien: Löcker 2008, S. 84f.
- Domenico Jacono: Rapid? Fans mit einer Mannschaft! In: Rapid. Die Chronik. Band II. 1999-2009. Waidhofen a. d. Taya: Buschek 2009, S. 40-49
- Domenico Jacono: Jugendliche Fankultur. In: 110 Jahre SK Rapid Wien, Beilage zu: Block West Echo neu, Nr. 4 (Frühjahr 2009), 20 S., hier S. 14-18
- Domenico Jacono: Jugendliche Fußballfans. In: Erziehung und Unterricht 9/10 (2011), S. 877-886
- Domenico Jacono: Religion Rapid. Die Geschichte der Anhänger des SK Rapid Wien. Göttingen: Werkstatt (in Arbeit)
- Luger, Kurt: Die konsumierte Rebellion. Geschichte der Jugendkultur von 1945 bis 1995. In: Reihard Sieder, Hg.: Österreich 1945-1995. 2. Aufl. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik 1996, S. 497-511.
- Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner: Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. Frankfurt am Main: Campus 1999.
- Wolfgang Maderthaner, Roman Horak: Mehr als nur ein Spiel. Fußball und populare Kulturen im Wien der Moderne. Wien: Löcker 1997
- Matthias Marschik: 100 Jahre Erster Simmeringer Sportklub. Wien: Turf-Verlag 2001
- Jakob Rosenberg, Georg Spitaler: Grün-Weiß unterm Hakenkreuz. Der Sportklub Rapid im Nationalsozialismus (1938-1945). Hg. v. SK Rapid und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Wien: 2011
Weblinks
- Österreichische Fußballdatenbank Austria Soccer [Stand 10.08.2016]
Einzelnachweise
- ↑ Zeitzeugen berichten zum Beispiel von Revierkämpfen auf der Schmelz zwischen den „Fünferln“ (Neufünfhaus) und „Lercherln“ (Neulerchenfeld). Siehe: Dokumentationsmappe „Schmelz“ des Wiener Bezirksmuseums Rudolfsheim-Fünfhaus.
- ↑ Illustriertes Sportblatt, 9. November 1912, S. 8
- ↑ Neue Freue Presse, 5. September 1933, S. 7
- ↑ Auch in Friedrich Torbergs Roman "Die Mannschaft" (1935) wird der "Soccer"-Rhythmus bereits erwähnt.
- ↑ Sportfunk, 31. Oktober 1954, S. 5