Wiener Philharmoniker
Gründung und Entwicklung
Als geistiger Vater des heute weltberühmten Klangkörpers kann der Dirigent Otto Nicolai bezeichnet werden, dem es gelang, die Musiker des Hofoperntheaters zu ihrem eigenen künstlerischen und auch wirtschaftlichen Vorteil zu jenem Kollektiv zu überreden, das als "Wiener Philharmoniker" in die Musikgeschichte eingegangen ist.
Am 28. März 1842, um die Mittagszeit, fand im Großen Redoutensaal unter Nicolais Leitung jenes denkwürdige Konzert mit Mitgliedern des Orchesters der Hofoper statt, das (als "Philharmonische Academie" bezeichnet) als eigentliche Geburtsstunde des Orchesters angesehen werden kann. "Das sämmtliche Orchesterpersonal des k. k. Hofopernorchesters hat sich vereinigt, um unter Kapellmeister Nicolais Direction ein Concert zu geben, das in den Annalen der Wiener Concerte seinesgleichen sucht. Dieses Concert, von den Unternehmern 'Philharmonische Academie' genannt, wird uns Classisches und Interessantes bringen", so war in einem Aufruf zu diesem Konzert zu lesen. Nicolai definierte in seinem Aufruf im wesentlichen schon alle Prinzipien der sogenannten "Philharmonischen Idee": Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist die Zugehörigkeit zum Orchester der Hofoper (heute der Staatsoper); der Begriff "Unternehmer" umfasst Eigenverantwortlichkeit ebenso wie demokratische Selbstbestimmung; die künstlerische Leitung bleibt Dirigenten von allererstem Rang vorbehalten; schließlich das Bemühen, "classische und interessante" Programme zu bieten.
Das Entstehen des philharmonischen Orchesters war eng mit dem des modernen Konzertwesens und dessen Weiterentwicklung verbunden. Erst mit dem Anbruch einer sogenannten bürgerlichen Musikkultur entstanden Orchester, deren bedeutendste in Europa alle auf die etwa gleiche Vergangenheit zurückblicken können: sie formierten sich aus einer bereits bestehenden "Kapelle" (etwa Berufsmusiker im Dienst eines Fürsten oder geistigen Würdenträgers), um gemeinsam und auf eigene Rechnung zu musizieren. Auch die Wiener Philharmoniker entstanden, als sie sich nicht mehr ausschließlich als Opernorchester, sondern auch als Konzertorchester hören lassen wollten.
Die Idee der "Philharmonischen Konzerte" hatte sich bald im Bewusstsein des Publikums verankert. Nach mehreren vergeblichen Versuchen und Unterbrechungen lieferte die Gesellschaft der Musikfreunde das Vorbild, und so fand am 15. Jänner 1860 unter der Leitung von Karl Eckert das erste einer Serie von vier Abonnementkonzerten statt. Seit diesen Tagen bestehen die "Philharmonischen Konzerte" ohne Unterbrechung, lediglich der Wechsel vom jeweils für die Dauer einer Saison gewählten Abonnementdirigenten zum Gastdirigentensystem brachte eine grundlegende Änderung.
Am 19. Juni 1908 beschloss die Hauptversammlung der Philharmoniker, diesen Weg zu beschreiten. Am 22. Juni reichten Alois Markl und Franz Heinrich als Vertreter der Philharmoniker die Statuten bei der Niederösterreichischen Statthalterei in Wien als zuständige Behörde zur Bewilligung ein. Bereits am 29. Juni 1908 entschied die Statthalterei, die Bildung des Vereins "Wiener Philharmoniker" nicht zu untersagen, sondern zu genehmigen. Die Philharmoniker verglichen sich mit den Nachkommen des Rudolf Putz, die das Testament angefochten hatten. Sie traten 1909 das Erbe an. Es sollte einem gemeinnützigen Zweck zugunsten der Mitglieder gewidmet werden. Die Musikergemeinschaft fand mit der Vereinsgründung zu jener organisatorischen und rechtlichen Form, die sich in Krisenzeiten ebenso wie in Zeiten wirtschaftlichen Wohlergehens bewährte. "Die Verfasstheit als Verein macht es heute möglich, die philharmonische Idee des Otto Nicolai weiterhin zu institutionalisieren und in ihrer künstlerischen Grundtendenz zu wahren", so der Vorstand der Philharmoniker Clemens Hellsberg.
In der Zeit des Nationalsozialismus war der Anteil an Mitgliedern der NSDAP und parteinaher Organisationen unter den Musikern mit knapp 50 Prozent besonders hoch. Jüdische Künstler wurden 1938 sofort aus dem Orchester entfernt, andere später auch aus politischen Gründen. Sechs Philharmoniker wurden zu Opfern des Holocaust. Da es unter den Abonnenten und Förderern bis 1938 viele vermögende Jüdinnen und Juden gab, verzeichnete das Orchester auch massive finanzielle Einbußen.
Bis in Ende des 20. Jahrhunderts nahmen die Philharmoniker keine Frauen als Orchestermusikerinnen auf. Erst am 27. Februar 1997 fasste die Vollversammlung den Beschluss, in Hinkunft auch Frauen zuzulassen. Der Anteil der Künstlerinnen wuchs bis 2020 auf knapp 10 Prozent an.
Dirigenten und Orchesterleitung
Schon in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens erlebte das bald zu internationalem Ruhm aufgestiegene Orchester eine Vielzahl musikhistorischer Begegnungen. So standen unter anderem Johannes Brahms, Anton Bruckner, Gustav Mahler, Johann Strauß Sohn, Richard Strauss, Giuseppe Verdi und Richard Wagner am Dirigentenpult, um auch eigene Werke mit dem Orchester aufzuführen.
Die bedeutendsten Dirigenten ihrer Zeit, Hans Richter, Hans von Bülow, Franz Schalk, Felix Weingartner, Arturo Toscanini, Bruno Walter, Karl Böhm, Herbert von Karajan oder Leonard Bernstein leiteten Konzerte der Wiener Philharmoniker. Da das Orchester immer aus Mitgliedern der Hof- beziehungsweise Staatsoper bestand, war es auch den jeweiligen Direktoren oder ersten Dirigenten höchst verpflichtet, wählte daher auch oft bedeutende Hofoperndirigenten zu ständigen Dirigenten der philharmonischen Konzerte (der Stellung eines Chefdirigenten entsprechend).
Erst ab 1933 banden sich die Wiener Philharmoniker nicht mehr ausschließlich an einen musikalischen Leiter, sondern luden zu einem Hauptdirigenten immer auch bedeutende Gäste ein.
Gastspiele und Sonderveranstaltungen
1877 spielte das Orchester erstmals außerhalb Wiens, Anlass war das erste Salzburger Musikfest (die Salzburger Festspiele sind bis heute eine wichtige Wirkungsstätte des Orchesters); 1900 unternahmen die Wiener Philharmoniker unter Mahlers Leitung die erste Auslandsreise (Paris). Jährlich finden circa zehn bis elf Abonnementkonzerte statt; das traditionsreiche Neujahrskonzert und der seit 1924 veranstaltete Philharmonikerball gehören zu den gesellschaftlichen und musikalischen Höhepunkten des Wiener Musikjahres. Seit 2004 findet im Schlosspark Schönbrunn jährlich das Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker statt, das frei zugänglich ist und wie das Neujahrskonzert in eine Vielzahl von Ländern übertragen wird.
Besonderheiten
Weltweit wird bis heute der "philharmonische Klang" gelobt. Die Schulung der Musiker sowie Tradition und Modulationsfähigkeit des Klangkörpers sichern dem Orchester seinen Weltruf. Sie verwenden gegenüber dem Normalton (Kammerton auf a = 440 Hertz) einen etwas erhöhten Stimmton.
Als die "Österreichische Münze" 1989 mit der Herausgabe von Goldbullionmünzen begann, benannte sie diese nach dem Orchester und stimmte darauf die künstlerische Gestaltung ab (Musikvereinssaal, Instrumente).
Das Haus der Musik im ehemaligen Erzherzog-Carl-Palais beherbergt seit 2000 ein öffentlich zugängliches Museum der Wiener Philharmoniker. Deren Gründer Otto Nicolai hatte an dieser Stelle gewohnt.
Im Sommer 2018 wurde die Orchesterakademie der Wiener Philharmoniker gegründet. Ihr Ziel ist die künstlerische Ausbildung junger Musikerinnen und Musiker auf höchstem Niveau.
Auszeichnungen
Die Wiener Philharmoniker wurden mehrfach ausgezeichnet, so 2014 mit dem Birgit-Nilsson-Preis und dem Herbert-von-Karajan-Musikpreis. 2021 wurde dem Orchester der Österreichische Musiktheaterpreis in der Kategorie Bestes Orchester überreicht.
Video
wien.at, Stadt Wien/Bohmann: Virtueller Dirigent / Radetzkymarsch, 57 Sek. [Stand: 1.12..2017]
Quelle
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, M.Abt. 119, A 32 - Gelöschte Vereine: 4602/1921
Literatur
- Christian Merlin: Die Wiener Philharmoniker. Le Philharmonique de Vienne. 2 Bände. Wien: Amalthea 2017
- Christoph Wagner-Trenkwitz: Das Orchester, das niemals schläft. Die Wiener Philharmoniker. Wien: Amalthea 2017
- Bernadette Mayrhofer/Fritz Tümpi: Orchestrierte Vertreibung: unerwünschte Wiener Philharmoniker. Verfolgung, Ermordung und Exil. Wien: Mandelbaum 2014
- Clemens Hellsberg: Demokratie der Könige. 1992
- Clemens Hellsberg: Die Wiener Philharmoniker. In: Musik in Österreich. 1989
- Franz Endler: Musik in Wien - Musik aus Wien. 198
- Hans Weigel: Das Buch der Wiener Philharmoniker. Salzburg 1967
- Harry Kühnel [Red.]: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs [Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung in Grafenegg]. Band 2: 1880-1916, Glanz und Elend. Wien: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung 1984, S. 468, 470
- Herta und Kurt Blaukopf: Die Wiener Phiharmoniker. 1986
- Otto Biba [Hg.]: Die Wiener Philharmoniker. Botschafter der Musik. Katalog, Linz 1976
- Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung [Hg.]: Orchester in Österreich. 1984
- Kurt Dieman: Seid umschlungen, Millionen. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. 1983
- Franz Grasberger: Die Wiener Philharmoniker bei Johann Strauß. 1963
- Wilhelm Jerger [Hg.]: Briefe an die Wiener Philharmoniker. 1942
- Heinrich Kralik: Die Wiener Philharmoniker. Monographie eines Orchesters. 1938
- Erwin Mittag: Aus der Geschichte der Wiener Philharmoniker. 1950
- Richard von Perger: Denkschrift zur Feier des 50jährigen ununterbrochenen Bestandes der Philharmonischen Konzerte in Wien 1860-1910. 1910
- Hans Weigel: Das Buch der Wiener Philharmoniker. Salzburg 1967
- Wiener Philharmoniker [Hg.]: Die Wiener Philharmoniker. Ein Stück Weltgeschichte. 1947
- Wiener Philharmoniker [Hg.]: 125 Jaher Wiener Philharmoniker. ohne Jahr [1967]
- Wiener Philharmoniker [Hg.]: Wiener Philharmoniker 1842-1942, 2 Bände, 1942