Geschlechtskrankheiten im Nachkriegs-Wien
Die Zahl der an Geschlechtskrankheiten erkrankten Wienerinnen und Wiener, Flüchtlingsfrauen und Zwangsarbeiterinnen wie die Alliierter Soldaten stieg bald nach Kriegsende rasch an. Dafür verantwortlich war die erhebliche Zahl von Vergewaltigungen, in vielen Fällen durch Angehörige der Roten Armee, die Zunahme der Überlebens-Prostitution und die Infizierung durch Kriegsheimkehrer.
Verbreitung
Die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten nahm nach Kriegsende enorm zu, wobei bei der Erfassung der erkrankten Personen von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Offiziell lag die Zahl der Neuerkrankungen an anzeigepflichtigen venerischen Krankheiten im Juli 1945 bei rund 2.500 Fällen und sank in der Folge unter 2.000. Da für das gesamte Jahr 1945 in Niederösterreich 47.000 Fälle registriert wurden, muss der Erfassungsgrad zu diesem Zeitpunkt gering gewesen sein. Nach den Aufzeichnungen der Beratungsstellen zeigte sich im Juli 1945 sowohl bei Syphilis (Lues) als auch bei Gonorrhöe ein Gipfel an gemeldeten Fällen. Im Jahr 1946 kam es jedoch zu einem neuerlichen Anstieg. Nach einem Bericht der MA 15 - Gesundheitsamt nahm die Verbreitung der Syphilis im ersten Halbjahr 1946 um 20% im Vergleich zum zweiten Halbjahr 1945 zu. Bei der Gonorrhoe wurden jedoch im Juli 1946 um 30 Prozent weniger Neuinfektionen registriert (im Juli 1946: 1.187, davon 729 Frauen und 458 Männer). Die Morbidität der Geschlechtskrankheiten sank in den Folgejahren erst allmählich. 1946 wurden insgesamt 13.012 Fälle an Gonorrhoe und 5.998 an Syphilis (Lues) gemeldet, 1951 2.709 bzw. 420. Insgesamt war Zahl an erkrankten Frauen, die unter Behandlung standen, doppelt so hoch wie die der Männer.
Maßnahmen zur Bekämpfung
Für die Behandlung der Syphilis stand Penicilin für die einheimische Bevölkerung wie für Angehörige der Roten Armee bis Anfang 1946 kaum zur Verfügung. Die Versorgung der Außenbezirke Groß-Wiens (22 bis 26) war mangels Transportmöglichkeiten anfänglich unmöglich, auch gab es noch nicht genügend Ärzte. Der rasante Anstieg von Geschlechtskrankheiten 1946 in der Zivilbevölkerung und deren Verbreitung durch illegale Prostitution drohte auch Personen der Besatzungsmächte immer mehr zu betreffen, weswegen diese die Stadtverwaltung aufforderten, diesbezüglich Maßnahmen zu ergreifen.
Dazu zählten:
- Ermittlung des Ursprungs und Erfassung von kranken Personen nach §11 des Geschlechtskrankheitsgesetztes, was auch Privatärzte dazu verpflichtete, solche Patienten zu melden.
- Kostenlose Behandlung in Spitälern und Ambulanzen. Diese wurde jedoch aus Angst vor dem Bekanntwerden der Infektion kaum genutzt. Besser angenommen wurden die Abteilungen in den 20 Bezirksambulanzen.
- Androhung, Zwangsmaßnahmen gegen alle an Syphilis, Gonorrhoe oder weichem Schanker erkrankten Prostituierten oder Arbeitslosen einzuleiten.
- Gesetzlich angeordnete Untersuchungen bestimmter weiblicher Personengruppen (Prostituierte, Arbeitslose, Frauen mit "zweifelhafter" Lebensführung) zwischen 16 und 35 Jahren. In der sowjetischen Zone, z.B. in Mödling (24) wurden teilweise alle Frauen in diesem Alter zwangsweise zum Testen aufgerufen, was manche zur Flucht in andere Bezirke motivierte.
- Einsatz von Spezialteams der Polizei bei Razzien von Vergnügungsstätten und illegalen Treffpunkten. Dazu fehlte es aber an erfahrenen Beamten, da durch die Entnazifizierung Personalnot herrschte. Eine von den Besatzungsmächten vorgebrachte Idee, die Hausverwalter bei Verdacht auf geheime Prostitution einer Meldepflicht zu unterwerfen, wurde nicht umgesetzt, da dies zu Rache und Erpressung innerhalb der Hausgemeinschaft führen könnte.
- Aufklärung der Bevölkerung durch Radio, Presse, Filme und Gespräche bei der Therapie von Kranken. Gedrucktes Aufklärungsmaterial wurde bei der Lebensmittelkartenausgabe für 16-Jährige und Ältere verteilt und auch an Schulen für die älteren Jahrgänge ein Aufklärungs- und Hygieneunterricht eingeführt. Gewerkschaften und politische Parteien organisierten Plakate und Vorträge.
- Gesetzliche Maßnahmen nach §393 des österreichischen Strafgesetzbuches und des Vagabundengesetztes von 1885 gegenüber Personen, die wissentlich ihre Erkrankung verschwiegen. Die Dunkelziffer bei dieser Gruppe war sehr hoch.
- Von den Soldaten der Besatzungsmächte wurden kaum Angaben über Kontakt mit einheimischen Frauen und möglichen Infektionsquellen gemacht, weswegen jede Besatzungsmacht ab November 1946 einen Verbindungsoffizier für diese Angelegenheit zur Unterstützung der Polizei abkommandierte.
Meldepflicht
In der ersten Nachkriegsmonaten hatten Ärzte und Ärztinnen und Spitäler im Glauben, das deutsche Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aus dem Jahr 1927 sei nicht mehr in Kraft, die Meldungen von Geschlechtskrankheiten vorerst ausgesetzt. Die Bezirksärzte erhielten daher Anfang Juni 1945 den Auftrag, alle Ordinationen über die Wiederaufnahme der Meldepflicht zu informieren, auch an die Krankenhäuser erging dieser Aufruf. Zunächst gab es aber kaum Rückmeldungen, was die statistische Erfassung praktisch unmöglich machte. Erst ab Sommer 1945 setzte wieder eine geregelte Erfassung ein.
Behandlung
Penicillin und andere Sulfonomide standen in der sowjetischen Besatzungszone kaum zur Verfügung, chronische Krankheitsverläufe waren daher häufig. Dazu kam, dass die viele Monate dauernden Therapien von betroffenen Frauen oft abgebrochen werden mussten, weil die Versorgung von Kindern oder anderen Familienangehörigen dies erforderte. Niedergelassene Ärzte überwiesen Patientinnen und Patienten häufig an Krankenhäuser, welche durch die grassierenden Epidemien überbelegt waren. In einzelnen Krankenanstalten wurden eigene Krankenabteilungen oder Notspitäler für Geschlechtskranke eröffnet. Ab dem Jahr 1946 trat durch Medikamentenlieferungen der Westalliierten eine allmähliche Verbesserung der Behandlungssituation ein.
Beratungsstelle für Geschlechtskrankheiten
Bereits am 27. April 1945 nahm die Beratungsstelle für Geschlechtskrankheiten wieder ihren Betrieb auf (1., Zelinkagasse 3). Ihr Aufgabenbereich umfasste neben der Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten auch die Überwachung der Prostitution, Eheberatung und die Unterstützung im Heilungsprozess. Zu Beginn war die Beratungsstelle in erster Linie mit der Betreuung vergewaltigter Frauen betraut, rund 100 suchten hier täglich um Hilfe an. Im Juni 1945 wurde ein starker Anstieg von Erkrankungen vermeldet – von 226 untersuchten Frauen war rund die Hälfte mit Gonorrhoe infiziert, von 50 untersuchten Männern 14. Nur die wenigsten Vergewaltigungsfälle gelangten auch zur Anzeige, meist geschah dies nur, wenn schwere Körperverletzung damit einherging, oder wenn es sich bei den Opfern um Minderjährige handelte. Bei den Tätern handelte es sich in den dokumentierten Fällen fast ausschließlich um sowjetische Soldaten. Prostituierte mussten sich einmal wöchentlich einer Überprüfung durch die Beratungsstellen unterziehen. In den ersten rund eineinhalb Monaten fanden über 3500 Untersuchungen statt, wobei etwa 450 Fälle von Gonorrhoe und 15 Syphilis-Fälle diagnostiziert wurden.
Prostitution
Ein weiterer Schwerpunkt war die Regulierung der genehmigten sowie die Bekämpfung der geheimen Prostitution, dafür wurden die Polizei und die Sittenpolizei herangezogen. Rechtlich stützten sich die Maßnahmen auf §5 des Vagabundengesetztes und wiederum auf das deutsche Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten aus dem Jahr 1927. Prostituierte waren zu einer wöchentlichen Untersuchung in der Meldestelle verpflichtet, jede sechste Woche war auch ein Bluttest obligatorisch. Zu Beginn waren diese Regelungen aber noch wenig zielführend, denn die Polizei verfügte noch nicht über ausreichend Personal. Die illegale Prostitution existierte daher weiterhin, und auch die rund 300 bekannten legalen Prostituierten hielten sich kaum an die Vorgaben (bis Ende Juni 1945 ließen sich nur 20 pro Woche untersuchen). Die Eröffnung von Bordellen war zwar untersagt, doch nur für die einheimische Bevölkerung, denn auf Intervention der US-Besatzungsmacht sollte es für deren Soldaten zugängliche Bordelle geben.
Heilanstalt Klosterneuburg
Die ehemalige "Irrenanstalt" Klosterneuburg, die 1938 an Wien gefallen war, wurde nach dem Krieg ausschließlich als Unterkunft für Frauen und Mädchen mit Geschlechtskrankheiten genutzt. Dorthin überwiesen die Beratungsstellen einerseits infizierte Prostituierte, andererseits kamen dort auch Erkrankte unter, die ansonsten weitab von Behandlungsmöglichkeiten wohnten. 1945 waren pro Tag durchschnittlich 311 Patientinnen untergebracht, ab 1946 sank die Zahl Jahr für Jahr (1946: 265; 1947: 215; 1948: 211; 1949: 158). 1946 wurde die Anstalt um eine geschlossene Nachfürsorgeabteilung erweitert, in der geheilten Patientinnen beim Wiedereinstieg ins Berufsleben geholfen werden sollte. 1947 kam eine offene Nachfürsorgeabteilung hinzu, in der bereits wieder beschäftigte Personen weiterhin wohnen konnten. Mit der sinkenden Zahl an Geschlechtskranken konnten andere Teile des Komplexes wieder ihrer ursprünglichen Verwendung zugeführt werden. Ab 1950 kam hier wieder ein Altersheim unter, dafür mussten die hier arbeitenden Caritas-Schwestern in den Trakt der Geschlechtskranken übersiedeln.
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.2.34 – H.A.Klosterneuburg, Ersparungen im Betrieb
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.2 – Bericht über die Tätigkeit der Beratungsstelle für Geschlechtskranke
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.22 – Bericht über die Tätigkeit des Gesundheitsamtes und der ihm unterstehenden Dienststellen seit Abschluß der Kampfhandlungen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.21 – Tagesberichte der Polizei Mai 1945 bis November 1946
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, MD, Alliierte Verbindungsstelle, A1, Akten 24/46, 48/46, 60/46, 61/46, 121/46, 181/46, 215/46, 268/46, 327/46, 43/47, 48/47, 53/47, 89/47
Literatur
- Marianne Baumgartner: Vergewaltigungen zwischen Mythos und Realität. Wien und Niederösterreich im Jahr 1945. In: Frauenleben 1945. Kriegsende in Wien. 205. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien: Museen der Stadt Wien 1995, S. 59-73.
- Ermar Junker: Vom Amulett zur Vorsorgemedizin. Der Kampf gegen Seuchen in Wien im Wandel der Zeiten. Wien: Literas 2000
- Magistrat der Stadt Wien (Hg.): Statististisches Jahrbuch der Stadt Wien 1943-45, 1946/47. Wien 1948-1949
- Andrea Petö: Stimmen des Schweigens. Erinnerungen an Vergewaltigungen in den Hauptstädten des "ersten Opfers" (Wien) und des "letzten Verbündeten" Hitlers (Budapest) 1945. In: Zeitschrift für Geschichte 47 (1999), S. 892-913.
- Barbara Stelzl-Marx: Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955. Kriegsfolgen-Forschung 6. Wien/München Oldenbourg 2012