Morbidität im Nachkriegs-Wien

Der Gesundheitszustand weiter Teile der Bevölkerung verschlechterte sich seit der Spätphase des Zweiten Weltkrieges. In der unmittelbaren Nachkriegszeit trat eine weitere rapide Verschlechterung durch die Verbreitung von Infektionskrankheiten (Typhus, Ruhr, Fleckfieber, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten) ein. Durch Unterernährung traten Entwicklungsstörungen bei Kindern auf.
Epidemiologische Lage
Nach Kriegsende waren Teile der Stadt zerstört, der Schutt der Gebäude und der Müll der Menschen war Brutstätte für Seuchen (Typhus, Ruhr, Fleckfieber) und Ungeziefer. Die Frischwasserversorgung musste erst wieder hergestellt werden sowie die Sicherung der Keimfreiheit durch die Zugabe von Chlor gegen Typhus und Ruhr. Hinzu kam aufgrund des Lebensmittelmangels die schwere Unterernährung der Menschen und damit verbundene Schwächung des Immunsystems, diese trug zum starken Anstieg der Tuberkulose massiv bei. Aus der Kombination dieser Risikofaktoren zeigten sich bei Kindern Entwicklungsstörungen. Die Anwesenheit der Besatzungssoldaten führten außerdem zu einem rasanten Anstieg an Geschlechtskrankheiten aufgrund von Gelegenheitsprostitution.
Morbidität
anzeigepflichtige Infektionskrankheiten
- 1945: rund 5.600 Erkrankungen an Ruhr, 3.800 an Typhus, 2.900 an Diphtherie, 2.200 an Scharlach
- 1946: rund 3.700 Erkrankungen an Diphtherie, 1.800 an Scharlach, 1.000 an Typhus, 900 an Ruhr, 900 an Keuchhusten, 200 an Malaria
- 1947: rund 3.100 Erkrankungen an Diphtherie, 1.900 an Scharlach, 700 an Typhus, 600 an Keuchhusten, 200 an Malaria
anzeigepflichtige venerische Erkrankungen
- Juli-Dezember 1945: 12.481
- 1946: 19.147
- 1947: 12.915
Tuberkulose
- Ende 1945: 27.095 Neuerkrankungen
- 1946: 11.602, darunter an ansteckender Lungentuberkulose 2.566 (1.512 Männer, 1.054 Frauen)
- 1947: 14.841, darunter an ansteckender Lungentuberkulose 2.394 (1.485 Männer, 909 Frauen)
- 1948: 14.031 darunter an ansteckender Lungentuberkulose 2.377 (1.437 Männer, 940 Frauen)
- 1949: 9.223 darunter an ansteckender Lungentuberkulose 1.913 (1.158 Männer, 755 Frauen)
- 1950: 6.002 darunter an ansteckender Lungentuberkulose 1.507 (871 Männer, 636 Frauen)
Tuberkulose-Fürsorge
Spitalsbetten für Tuberkulose in Wien (insgesamt 1.593): Lungentuberkulose Erwachsene (1.289) und Kinder (120), Hauttuberkulose (120), Knochentuberkulose (64). Heilstättenbetten für Tuberkulose (insgesamt 1.200, davon 600 in Wien): Lungentuberkulose (459), Knochentuberkulose (141), außerhalb Wiens (450), Bad-Hall Kinderbetten für leichte Form von Hilusdrüsen-Tuberkulose (80) und exponierte Kinder (90).
Von Jänner bis August 1946 gab es in Wien 3.562 Anträge für die Aufnahme in Heilstätten, davon wurden 1.800 aufgenommen. Es gab noch Anstalten mit freien Gebäuden in Weyer (Bezirk Steyr-Land, Oberösterreich) und Waidhofen an der Ybbs (Bezirk Waidhofen an der Ybbs (Stadt), Niederösterreich), die jedoch über kein Inventar verfügten.
Medizinische Versorgung
In der Stadt waren 1946 3.724 Ärzte tätig und 234 Apotheken hatten wieder geöffnet. Dazu kamen insgesamt 15.922 Betten (12.507 städtische und 3.415 private) in den Krankenhäusern. Für Schulen, Kindergärten und Spielplätze wurde beschlossen, dass Schulklassen und Kindergartengruppen ab zwei Diphtherie oder Scharlach Fällen zu sperren seien, bei Kinderlähmung bereits ab einem Fall. Mit 11. August wurde der Badebetrieb der 13 Planschbecken Wiens eingestellt. Alle Heimkehrer und Rückwanderer wurden über drei Wochen gesundheitlich überprüft und gegen Fleckfieber geimpft. Im Arsenal wurde eine Quarantänestation für gesunde Mitmenschen von Erkrankten eingerichtet.
Bürgermeister Theodor Körner war es Anfang des Jahres 1946 nicht möglich, eine Zwangsimpfung gegen Diphtherie zu erlassen, da es dafür keine Gesetzesgrundlage gab und er eine solche auch nicht erlassen konnte. Die Bevölkerung wurde jedoch zumindest trotzdem über die Gefahr der Diphtherie und der Notwendigkeit einer Impfung aufgeklärt. Bei der Versorgung mit medizinischen Gütern gab es starke Schwankungen. Es gab Probleme in der Versorgung durch die UNRRA und die österreichische Pharmaindustrie hatte zu wenig Rohstoffe für Eigenproduktion. Die Medikamentenversorgung war laut Apothekerreferat der MA 17 im Jahr 1946 noch immer katastrophal, die Behandlung von lebensgefährlichen Erkrankungen nicht mehr möglich. Außerdem war auch die Heizstoffversorgung der Krankenhäuser nicht komplett gesichert, beispielsweise im AKH und dem Krankenhaus Lainz fehlte es an Koks und Öl. Das sowjetische Oberkommando erinnerte in einem Aufruf daran, dass das Behandeln von sowjetischen Soldaten und Staatsbürgern durch öffentliche Krankenhäuser und öffentliche sowie auch Privatärzte nicht gestattet war. Dies durfte nur in der sowjetischen Heilanstalt „Hebe“ (1., Schubertring 6) passieren.
Im Schloss Laxenburg konnte der Seuchenkordon gegen Typhus Ende März 1947 geschlossen werden. Die restlichen sanitären Kordons an den neun wichtigsten Einfahrtsstraßen und fünf Bahnhöfen wurden mit 30. Juni 1947 ebenfalls aufgelöst.
Siehe auch:
- 1945 bis 1955
- Alliierte Besatzung
- Gesundheitliche und sanitäre Versorgung in Wien in der Besatzungszeit
- Tuberkulose im Nachkriegs-Wien
- Epidemien im Nachkriegs-Wien
- Typhus
- Alltag in Wien in der Besatzungszeit
Quellen
Literatur
- Gustav Bihl/Gerhard Meißl/Lutz Musner: Vom Kriegsende 1945 bis zur Gegenwart. In: Wien. Geschichte einer Stadt. Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart. Hg. von Peter Csendes, Ferdinand Opll. Wien / Köln / Weimar: Böhlau Verlag 2006, S. 545-815, hier: 550 f., 572
- Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit" : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32, Wien : Verlag für Geschichte und Politik 2007
- Ermar Junker/H. Klima: Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In: Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 158-167.
- Ermar Junker/Beatrix Schmidgruber/Gerhard Wallner: Die Tuberkulose in Wien. Wien: Literas 1999
- Magistrat der Stadt Wien (Hg.): Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien NF 7-12 (1943-1951), Wien 1948-1952
- Magistrat der Bundeshauptstadt Wien (Hg.): Die Verwaltung der Bundeshauptstadt Wien 1945-1949, Wien 1949-1951
- Karl Pospisil: Die Sterblichkeit der Wiener Bevölkerung im Jahre 1945. SD aus "Amtsblatt der Stadt Wien" 19/1946