Tuberkulose im Nachkriegs-Wien
Entwicklung der Tuberkuloseerkrankungen und -sterblichkeit
Nach einem langfristigen Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit in der Zwischenkriegszeit kam es bereits in der Spätphase des Zweiten Weltkrieg bedingt durch die Verschlechterung der Ernährungssituation und der hygienischen Verhältnisse zu einem Anstieg der Sterblichkeit. Dieser führte zu einem deutlichen Sterbegipfel im Jahr 1945, über das Jahr erkrankten 27.000 WienerInnen, wovon über 4200 starben, also über 15%. Über den Sommer 1945 verstarben monatlich über 300 Personen an Tbc. Die Tuberkulosesterblichkeit hatte sich im Vergleich zum Jahr 1938 verdoppelt, bei Säuglingen und Kleinkindern sogar verfünffacht. Die Sterblichkeit fiel jedoch bereits 1946/47 sehr rasch.[1] Nicht nur Zeitgenossen führten das wohl nicht zu Unrecht auf das „vorzeitige Wegsterben“ vieler Tbc-Kranker im Hungerjahr 1945 zurück. Dennoch war noch im Herbst die Zahl der Tuberkulosetoten dreimal so hoch wie im letzten Friedensjahr.
Die Zahl der erkrankten WienerInnen nahm jedoch weiterhin beständig zu. Von Jänner auf November 1946 stieg die Zahl von 27.600 auf 35.100, im Juni 1948 waren sogar über 41.000 aktive Fälle bekannt. Danach begannen die zahlreichen Maßnahmen jedoch zu greifen, und die Zahl der Neuerkrankungen sank bis zum Ende der Besatzungszeit: von 3400 Neudiagnosen (Juni 1948) auf 1800 (Juni 1952) und weiter auf rund 1500/Monat im Frühjahr 1955.
Tbc-Bekämpfung
Die Bekämpfung der Verbreitung der Tuberkulose stützte sich zunächst auf die schon im "Roten Wien" entwickelte Methodik. Ab Herbst 1945 nahmen 16 Tbc-Fürsorgestellen ihren Betrieb wieder auf. Röntgenreihenuntersuchungen zur Früherkennung wurden weiter ausgedehnt.[2] Von entscheidender Bedeutung erwies sich die Verbesserung der Ernährungssituation sowie der sanitären Umstände ab 1948. Dazu kamen medikamentöse Behandlung und groß angelegte Impfaktionen. Wie Tbc-Reihenuntersuchungen zeigen, fiel der Anteil positiv getesteter Schulanfänger der 1927 noch ein Drittel betragen hatte 1946 auf 14,5%, 1948 auf 13,4 Prozent.[3]
Eine weitere Maßnahme der Stadtregierung war die Asphaltierung der Straßen, um das Aufkommen des "Wiener Staubs" zu verhindern, den der Wiener Geologe Eduard Suess Ende des 19. Jahrhunderts als Ursache für Tuberkulose ausgemacht hatte. 1947 gelangte der im Auftrag des Städtischen Gesundheitsamts entstandene Tuberkulose-Informationsfilm "Macht im Dunkel" im Apollokino zur Uraufführung.
Tuberkulosestellen
Die Tuberkulosestellen wurden bereits im Herbst 1945 begründet, hatten jedoch vorerst, wie auch der Rest der Stadt, mit Strom-, Gas- und Wassermangel zu kämpfen. Ende 1946 gab es 17 dieser Stellen, im Sommer 1947 eröffnete eine weitere in Floridsdorf, da die dort wohnhaften Erkrankten bisher nach Brigittenau hatten pendeln müssen. Die Zahl der betreuten Personen nahm zunächst immer weiter zu: Waren im Juni 1947 etwa 35.000 WienerInnen erfasst, so stieg die Zahl innerhalb eines Jahres auf über 41.000. Von über 4.700 Personen, die im Mai die 1948 die Untersuchungen in Anspruch nahmen, waren 3444 auch wirklich erkrankt.
Danach begann die Zahl der Neuerkrankungen aber abzunehmen. 1949 wurde die Zahl der Kanzleikräfte in den Tuberkulose-Fürsorgestellen reduziert, da ohne die Zuteilung von speziellen Lebensmittelrationen der Bedarf nicht mehr im selben Ausmaß gegeben war. Gleichzeitig wurde aber noch die Anschaffung von Röntgengeräten für Tbc-Stellen diskutiert. Eine im Juni 1949 noch geplante Fürsorgestelle im 3. Bezirk scheint nicht mehr zustande gekommen zu sein.
Im Februar 1950 existierten noch vier Tuberkulose-Stellen:
- 9., Lazarettgasse 22
- 20., Hellwagstraße 2
- 21., Prager Straße 33
- 25., Valentingasse 12 (heute 23. Bezirk)
Diese waren trotz des Rückgangs an Neuerkrankungen weiterhin sehr gefragt, im Mai 1952 wurden dort fast 8.800 Untersuchungen vorgenommen, davon 238 Röntgenaufnahmen; bei 1903 Personen wurde Tuberkulose diagnostiziert. Außerdem führten die Mitarbeiterinnen im Monat über 7000 Hausbesuche durch.
Unterstützung mit Lebensmitteln und Geld
Zu Beginn schlug sich der allgemeine Nahrungsmangel sehr negativ auf die Sterblichkeit unter Tuberkulose-Kranken nieder. Ab 1. Juli 1946 waren diese daher unter den Gruppen aufgezählt, die Extrarationen erhalten sollten, doch wurde diese Ausgabe von den Alliierten vorerst verboten. Ende 1946 appellierten Bürgermeister Körner und Gesundheitsstadtrat Weinberger an die Öffentlichkeit, der Salzburger Verleger Bernhard Wüllerstorff publizierte in den USA zur Wiener Tuberkulose-Problematik. Es kam daraufhin zur Begründung des "Wiener Tuberkulosen-Hilfswerk – Amerikanische Hilfsaktion" unter Vorsitz von Körner, das die in den Vereinigten Staaten gesammelten Geld- und Sachspenden in Empfang nahm, um damit Lebensmittel anzukaufen oder Kuraufenthalte zu finanzieren. Zugleich sagte auch die "Schweizer Spende" eine Initiative zugunsten der Tuberkulose-Kranken zu.
Die Spenden ausländischer Hilfsaktionen wurden durch die Sachbeihilfenlager und die Bezirksfürsorgeämter ausgegeben – im Jänner 1947 kam diese Hilfe über 7000 Tuberkulosekranken zuteil. Außerdem gab es finanzielle Unterstützungsleistungen, von denen etwa 750 Kranke mit ihren Familien profitierten. Das dänische Rote Kreuz teilte 1947 einmal monatlich Lebensmittelzuschüsse an 800 Tuberkulosekranke aus. 1946 bis 1949 organisierten schwedische Hilfsorganisationen unter anderem eine Ausspeiseaktion für Tuberkulose-Gefährdete. Das US-amerikanische Zentralkomitee der Mennoniten zeichnete für eine Unterstützungsaktion für Waisen- und Flüchtlingskinder sowie Tuberkulöse verantwortlich, 800 Kranke erhielten in den Jahren 1947 bis 1950 Zusatzrationen.
1952 begründete die Österreichische Hochschülerschaft einen Tuberkulosen-Fonds für die Betreuung gefährdeter Studierender, an den Bürgermeister Franz Jonas 2000 Schilling aus dem ihm zur Verfügung stehenden ÖH-Fonds überwies.
Um die enormen Unkosten der Tuberkulose-Bekämpfung zu decken, wurde jährlich eine Häusersammlung durchgeführt. 1950 erbrachte diese rund 620.000 Schilling, die in die Errichtung von Wohnhäusern für Tuberkulose-Kranke fließen sollten, ein Baugrund wurde in der Löfflergasse (13. Bezirk) erworben. Auch 1951 war geplant, das Geld für ein Tuberkulosehilfe-Heim zu nutzen. 1952 trug dieses Geld maßgeblich zum Erwerb eines mobilen Röntgengeräts bei.
Impfungen und Medikamente
Planungen für größere Impfaktionen begannen im Winter 1947, als der Leiter des dänischen Seruminstituts, Dr. Johannes Holm, Wien besuchte, und eine dreimonatige Ausbildung für Wiener Ärzte in Dänemark zusagte, sowie die Bereitstellung von dänischem Personal und Impfserum. Anfang 1948 appellierte das Sozialministerium erneut an das Dänische Rote Kreuz, mit der Bitte um Impfstoffe, Instrumente und Personal.
Ab 1948 setzten die Gesundheitsbehörden bei Schulkindern massenhaft auf die sogenannte Calmette-Schutzimpfung (auch BCG-Impfung) – Impfungen mit abgeschwächten, apathogenen Mykobakterien, also unschädlich gemachten Tuberkelbazillen. Die Wirkung der BCG-Impfung blieb jedoch umstritten. Die größte Impfaktion begann im April 1949, wiederum in den Schulen. Alle Kinder mussten eine Tuberkulinprobe abgeben, bei negativem Resultat erhielten sie drei Tage später eine Impfung, bei positivem Ergebnis wurden die Kinder an die Fürsorgestellen überwiesen. Die Calmette-Impfungen wurden vom Gesundheitsamt durchgeführt, Impfstoffe kamen vom Schwedischen Roten Kreuz, weitere Unterstützung von der UNICEF.
Abseits der Prävention waren es Antibiotika, zunächst das seit 1946 verwendete, mit erheblichen Nebenwirkungen verbundene Streptomycin, und dann seit 1948 verfügbare verbesserte Tuberkulosestatistika, die bei Früherkennung die Heilung von Tbc ermöglichten. Ab 1954 konnten rechtzeitig entdeckte Tbc-Erkrankungen praktisch ausnahmslos medikamentös ausgeheilt werden. Bei schweren Erkrankungen blieben jedoch die Erfolge dieser Behandlung gering.[4]
Heil- und Untersuchungsanstalten
Ein großes Problem stellt ein der unmittelbaren Nachkriegszeit der Mangel an Betten und Ausrüstung dar – Mitte 1946 waren etwa 2000 Betten von den Alliierten in Beschlag genommen, Röntgengeräte waren praktisch nicht vorhanden. Von etwa 2000 Anträgen auf Heilstättenbetten für Tuberkulosekranke konnte so bis Mai nur einem Viertel entsprochen werden. Ende 1946 waren noch viele Spitäler zerstört oder von den Alliierten besetzt, dadurch gab es nur 1600 Spitalsbetten für Tuberkulosepatienten, womit etwa 1000 fehlten. In den Heilstätten war nur die Hälfte der benötigten 2400 Betten vorhanden. Einen wesentlichen Beitrag zur Besserung der Lage leistete daher die Bereitstellung weiterer Betten und die Herrichtung von Heilanstalten.
1948 wurde der Wiederaufbau der 1945 schwer beschädigten Lungenheilstätte Strengberg abgeschlossen, der vor allem durch die "Schweizer Spende" ermöglicht worden war, welche die Inneneinrichtung, Instrumente, Betten und auch eine komplette Röntgenanlage finanziert hatte. 1950 eröffnete das Großinhalatorium im Wilhelminenspital, das unter anderem bei Tuberkulose-Kranken zum Einsatz gelangte. Die Inhalationsfeinzerstäuber ermöglichten es den Medikamenten, bis in die letzten Winkel der Lunge zu gelangen.
1950 bis 1951 adaptierte die Stadt Wien die frühere Frauenabteilung der Poliklinik Feldgasse, um dort die hygienisch-bakteriologische Untersuchungsanstalt anzusiedeln, die zuvor unter schwierigen Umständen im Karolinen-Kinderspital untergebracht gewesen war. Unter anderem wurden hier das Trinkwasser, hygienische Gefahrenquellen, Desinfektionsmittel, Infektionskrankheiten und Fragen der Schul- bzw. Wohnungshygiene untersucht. Diese Anstalt verfügte auch über eine Tuberkulose-Abteilung, deren Einrichtung von UNICEF gespendet worden war.
Mobiles Röntgengerät
Ein mobiles Röntgengerät zur Untersuchung der Gesamtbevölkerung war schon Ende 1946 angeregt worden. Im April 1953 war es schließlich so weit: Aus dem Ertrag der jährlichen Tuberkulose-Sammlung konnte die Stadt einen Steyr-Lastkraftwagen samt Anhänger erstehen, der mit einer Röntgenanlage bestückt wurde, die UNICEF bereits 1951 gespendet hatte. Der Anhänger diente als Aufnahme-, Untersuchungs- und Warteraum, zur Bedienung des Gesamtgefährts waren nur drei Personen nötig. Pro Stunde waren 100 Untersuchungen möglich, pro Jahr 100.000. Geplant war, dass der Wagen zunächst bei Schulen in Verwendung kommen sollte, bevor er die Randgebiete der Stadt und schließlich Großbetriebe bedienen sollte.
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.3.3
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.11 – Statistiken
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.1
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Nachlass Körner, A1.4.22 – Berichte des Bürgermeisters und der Stadträte
- Rathauskorrespondenz vom Juni 1946, Oktober 1946, Dezember 1946, März 1947, Mai 1947, Juni 1947, Juli 1947, Oktober 1947, Jänner 1948, Juli 1948, April 1949, Juni 1949, Juli 1950, August 1950, September 1950, August 1951, Oktober 1951, Juni 1952, Juli 1952, Oktober 1952, April 1953, September 1953, März 1955
Literatur
- Ermar Junker, H. Klima: Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In: Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 158-167.
- Elisabeth Dietrich-Daum, Die "Wiener Krankheit" : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32, Wien : Verlag für Geschichte und Politik 2007
- Ermar Junker, Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Wien 1998.
- H.Klima, Ermar Junker, Tuberkulintestungen in Wien – Rückblick, Ausblick. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 87/1 (1986), S. 1-4
- Ermar Junker, BCG-Impfung aus heutiger Sicht. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 91(1990)12, S. 3-7.
- Ermar Junker, Beurteilung der tatsächlichen Tuberkulosesituation in einer Großstadt (SD aus „8. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Tuberkulose und Lungenerkrankungen“ Pörtschach, 23. bis 26. Mai 1965).
Einzelnachweise:
- ↑ Ermar Junker, H. Klima, Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In: Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 159-161.
- ↑ Ermar Junker, Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Wien 1998, S. 68, 70.
- ↑ H.Klima, Ermar Junker, Tuberkulintestungen in Wien – Rückblick, Ausblick. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 87/1(1986), S. 2-3.
- ↑ Die "Wiener Krankheit" : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32, Wien : Verlag für Geschichte und Politik 2007, S. 320, 343.