Tuberkulose im Nachkriegs-Wien

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Das neue Penicillin-Inhalatorium im Wilhelminenspital am Tag der Eröffnung, 2. September 1950
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Nach einem langfristigen Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit in der Zwischenkriegszeit kam es bereits in der Spätphase des Zweiten Weltkrieg bedingt durch die Verschlechterung der Ernährungssituation und der hygienischen Verhältnisse zu einem kurzfristig steilen Anstieg der Sterblichkeit. Infolge der Verbesserung der hygienischen Situation, der Lebensmittelversorgung durch ausländische Hilfsaktionen, der Überwachung der Verbreitung durch Fürsorgestellen war die Zahl der Neuerkrankungen nach 1948 im Sinken begriffen. Die wirksame Behandlung mit Antibiotika im Frühstadium setzte im größeren Maßstab erst ab 1953 ein.

Entwicklung der Tuberkuloseerkrankungen und -sterblichkeit

Nach einem langfristigen Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit in der Zwischenkriegszeit kam es bereits in der Spätphase des Zweiten Weltkrieg bedingt durch die Verschlechterung der Ernährungssituation und der hygienischen Verhältnisse zu einem Anstieg der Sterblichkeit. Dieser führte zu einem deutlichen Sterbegipfel im Jahr 1945, über das Jahr erkrankten 27.000 Wienerinnen und Wiener, wovon über 4200 starben (Letalität: über 15%). Über den Sommer 1945 verstarben monatlich über 300 Personen an Tbc. Die Tuberkulosesterblichkeit hatte sich im Vergleich zum Jahr 1938 verdoppelt, bei Säuglingen und Kleinkindern sogar verfünffacht. Die Sterblichkeit fiel jedoch bereits 1946/47 sehr rasch.[1] Nicht nur Zeitgenossen führten das wohl nicht zu Unrecht auf das "vorzeitige Wegsterben" vieler Tbc-Kranker im Hungerjahr 1945 zurück.

Dennoch war noch im Herbst 1946 die Zahl der Tuberkulosetoten dreimal so hoch wie im letzten Friedensjahr und auch die Zahl der erkrankten Personen nahm weiterhin beständig zu. Von Jänner auf November 1946 stieg die Zahl von 27.600 auf 35.100, im Juni 1948 waren sogar über 41.000 aktive Fälle bekannt. Danach begannen die zahlreichen Maßnahmen jedoch zu greifen und die Zahl der Neuerkrankungen sank bis zum Ende der Besatzungszeit: von 3400 Neudiagnosen (Juni 1948) auf 1800 (Juni 1952) und weiter auf rund 1500/Monat im Frühjahr 1955.

Plakat zur Ausstellung "Tuberkulose - Feind der Menschheit" im Margaretner Volksbildungshaus (1950)

Tbc-Bekämpfung

Die Bekämpfung der Verbreitung der Tuberkulose stützte sich zunächst auf die schon im "Roten Wien" entwickelte Methodik. Ab Herbst 1945 nahmen 16 Tbc-Fürsorgestellen ihren Betrieb wieder auf. Röntgenreihenuntersuchungen zur Früherkennung wurden weiter ausgedehnt.[2] Von entscheidender Bedeutung erwies sich die Verbesserung der Ernährungssituation sowie der sanitären Umstände ab 1948. Dazu kamen medikamentöse Behandlung und groß angelegte Impfaktionen. Wie Tbc-Reihenuntersuchungen zeigen, fiel der Anteil positiv getesteter Schulanfänger, der 1927 noch ein Drittel betragen hatte, 1946 auf 14,5%, 1948 auf 13,4 Prozent.[3] 1947 gelangte der im Auftrag des Städtischen Gesundheitsamts entstandene Tuberkulose-Informationsfilm "Macht im Dunkel" im Apollokino zur Uraufführung.

Tuberkulosefürsorgestellen

Während des Krieges gab es 20 Tuberkulosefürsorgestellen im Gebiet von Groß-Wien, die aber im April 1945 zumindest teilweise schließen mussten, einige kamen auch zu Schaden oder wurden zerstört. Im April/Mai 1945 waren daher nur zwölf Stellen in Betrieb. Zahlreiche Akten waren vernichtet worden, was die Betreuung der Erkrankten und die statistische Erfassung stark erschwerte. Die Tuberkulosestellen hatten, wie auch der Rest der Stadt, mit Strom-, Gas- und Wassermangel zu kämpfen. Ende 1946 gab es 17 dieser Stellen, im Sommer 1947 eröffnete eine weitere in Floridsdorf, da die dort wohnhaften Erkrankten bisher nach Brigittenau hatten pendeln müssen – die Floridsdorfer Stelle war im Krieg zerstört worden. Die Zahl der betreuten Personen nahm zunächst immer weiter zu. Waren im Juni 1947 etwa 35.000 WienerInnen erfasst, so stieg die Zahl innerhalb eines Jahres auf über 41.000. Von über 4.700 Personen, die im Mai die 1948 die Untersuchungen in Anspruch nahmen, waren 3444 auch wirklich erkrankt. Die an den Stellen beschäftigten Fürsorgerinnen waren für Erkrankte und deren Familien oft die primären Ansprechpersonen, sie übernahmen für sie auch Dienstwege bei Versicherungen und Ämtern. Ab 1949 begann die Zahl der Neuerkrankungen abzunehmen.

Im Februar 1950 existierten folgende Tuberkulosestellen:


Diese waren trotz des Rückgangs an Neuerkrankungen weiterhin sehr gefragt, im Mai 1952 wurden dort fast 8.800 Untersuchungen vorgenommen, davon 238 Röntgenaufnahmen; bei 1903 Personen wurde Tuberkulose diagnostiziert. Außerdem führten die Mitarbeiterinnen im Monat über 7000 Hausbesuche durch. 1950 wurde eine Tuberkulose-Fürsorgestelle in der Freihofsiedlung in Kagran (22) neueröffnet. In diesem Stadtteil war die Sterblichkeitsrate im Vergleich zu anderen Wiener Bezirken bisher höher (10,1 von 10.000 Kranken zu 8,6 von 10.000). Zudem war die Erfassung der Kranken durch die nächstgelegene Stelle in Floridsdorf wegen der räumlichen Ausdehnung des 22. Bezirks sehr schwierig.[4]

Tuberkulosefürsorgestelle in der Freihofsiedlung (22), 30. Oktober 1950

Unterstützung mit Lebensmitteln und Geld

Zu Beginn schlug sich der allgemeine Nahrungsmangel sehr negativ auf die Sterblichkeit unter Tuberkulose-Kranken nieder. Ab 1. Juli 1946 waren diese daher unter den Gruppen aufgezählt, die Extrarationen erhalten sollten, doch wurde dies Maßnahme von den Alliierten vorerst nicht akzeptiert. Ende 1946 appellierten Bürgermeister Körner und Gesundheitsstadtrat Alois Weinberger an die Öffentlichkeit, der Salzburger Verleger Bernhard Wüllerstorff publizierte in den USA zur Wiener Tuberkulose-Problematik. Es kam daraufhin zur Begründung des "Wiener Tuberkulosen-Hilfswerk – Amerikanische Hilfsaktion" unter Vorsitz von Körner, das die in den Vereinigten Staaten gesammelten Geld- und Sachspenden in Empfang nahm, um damit Lebensmittel anzukaufen oder Kuraufenthalte zu finanzieren. Zugleich sagte auch die "Schweizer Spende" eine Initiative zugunsten der Tuberkulosekranken zu.

Die Spenden ausländischer Hilfsaktionen wurden durch die Sachbeihilfenlager und die Bezirksfürsorgeämter ausgegeben. Im Jänner 1947 kam diese Hilfe über 7000 Tuberkulosekranken zugute. Außerdem gab es finanzielle Unterstützungsleistungen, von denen etwa 750 Kranke mit ihren Familien profitierten. Das dänische Rote Kreuz teilte 1947 einmal monatlich Lebensmittelzuschüsse an 800 Tuberkulosekranke aus. 1946 bis 1949 organisierten schwedische Hilfsorganisationen unter anderem eine Ausspeiseaktion für Tuberkulosegefährdete. Das US-amerikanische Zentralkomitee der Mennoniten zeichnete für eine Unterstützungsaktion für Waisen- und Flüchtlingskinder sowie Tuberkulöse verantwortlich, 800 Kranke erhielten in den Jahren 1947 bis 1950 Zusatzrationen.

Ausgabe von CARE-Paketen an tuberkulosegefährdete Kinder durch die schwedische Hilfsaktion "Rädda Barnen", 5. Juli 1948

1952 begründete die Österreichische Hochschülerschaft einen Tuberkulosen-Fonds für die Betreuung gefährdeter Studierender, an den Bürgermeister Franz Jonas 2000 Schilling aus dem ihm zur Verfügung stehenden ÖH-Fonds überwies.

Um die Kosten der Tuberkulosebekämpfung zu decken, wurde jährlich eine Häusersammlung durchgeführt. 1950 erbrachte diese rund 620.000 Schilling, die in die Errichtung von Wohnhäusern für Tuberkulosekranke fließen sollten, ein Baugrund wurde in der Löfflergasse (13. Bezirk) erworben. 1952 trug die Sammlung maßgeblich zum Erwerb eines mobilen Röntgengeräts bei.

Impfungen und Medikamente

Planungen für größere Impfaktionen begannen im Winter 1947, als der Leiter des dänischen Seruminstituts, Dr. Johannes Holm, Wien besuchte und eine dreimonatige Ausbildung für Wiener Ärzte in Dänemark zusagte, sowie die Bereitstellung von dänischem Personal und Impfserum. Anfang 1948 appellierte das Sozialministerium erneut an das Dänische Rote Kreuz mit der Bitte um Impfstoffe, Instrumente und Personal. Ab 1948 setzten die Gesundheitsbehörden bei Schulkindern und in Kindergärten massenhaft auf die sogenannte Calmette-Schutzimpfung (auch BCG-Impfung) – Impfungen mit abgeschwächten, apathogenen Mykobakterien, also unschädlich gemachten Tuberkelbazillen. Die Wirkung der BCG-Impfung blieb jedoch umstritten. Die größte Impfaktion begann im April 1949, wiederum in den Schulen. Alle Kinder mussten eine Tuberkulinprobe abgeben, bei negativem Resultat erhielten sie drei Tage später eine Impfung, bei positivem Ergebnis wurden die Kinder an die Fürsorgestellen überwiesen. Die Calmette-Impfungen wurden vom Gesundheitsamt durchgeführt, Impfstoffe kamen vom Schwedischen Roten Kreuz, weitere Unterstützung von der UNICEF.

Beginn der Aktion gegen die Tuberkulose in den Wiener Schulen, 26. April 1949

Abseits der Prävention waren es Antibiotika, zunächst das seit 1946 verwendete und mit erheblichen Nebenwirkungen verbundene Streptomycin sowie seit 1948 verfügbare verbesserte Tuberkulosestatistika, die bei Früherkennung die Heilung von Tbc ermöglichten. Ab 1954 konnten rechtzeitig entdeckte Tbc-Erkrankungen praktisch ausnahmslos medikamentös ausgeheilt werden. Bei schweren Erkrankungen blieben jedoch die Erfolge dieser Behandlung gering.[5]

Calmette-Schutzimpfungen im Kindergarten 15., Siebeneichengasse 15, 22. Dezember 1949

Heil- und Untersuchungsanstalten

Ein großes Problem stellt ein der unmittelbaren Nachkriegszeit der Bettenmangel und der Mangel an Ausrüstung dar. Mitte 1946 waren etwa 2000 Betten von den Alliierten in Beschlag genommen, Röntgengeräte waren praktisch nicht vorhanden. Von etwa 2000 Anträgen auf Heilstättenbetten für Tuberkulosekranke konnte so bis Mai 1946 nur einem Viertel entsprochen werden. Ende 1946 gab es nur 1600 Spitalsbetten für Tuberkulosepatienten, der Fehlbedarf lag bei etwa 1000. In den Heilstätten war nur die Hälfte der benötigten 2400 Betten vorhanden. Auch Personalmangel wirkte sich negativ auf die Versorgung der Erkrankten aus: 1948 mussten 120 Betten in der Lungenheilanstalt Baumgartner Höhe wegen Schwesternmangels unbelegt bleiben. Ein auf Knochentuberkulose spezialisiertes Privatheim war von der US-amerikanischen Besatzungsmacht besetzt, die dort eine Radiostation eingerichtet hatten. Noch 1950 waren 8% aller Spitalsbetten (über 1000) für Tuberkulosekranke reserviert.

1948 wurde der Wiederaufbau der 1945 schwer beschädigten Lungenheilstätte Strengberg abgeschlossen, der vor allem durch die "Schweizer Spende" ermöglicht worden war, welche die Inneneinrichtung, Instrumente, Betten und auch eine komplette Röntgenanlage finanziert hatte. Am 2. September 1950 eröffnete das Großinhalatorium im Wilhelminenspital, das unter anderem bei Tuberkulosekranken zum Einsatz gelangte. Die Inhalationsfeinzerstäuber ermöglichten es den Medikamenten, bis in die letzten Winkel der Lunge zu gelangen.

Das neue Penicillin-Inhalatorium im Wilhelminenspital, 2. September 1950

Auf dem Areal des Lainzer Krankenhauses befand sich seit 1929 ein Tuberkulosepavillon.

Liegehallen im Tuberkulosepavillon Lainz, 1949

1950 bis 1951 adaptierte die Stadt Wien die frühere Frauenabteilung der Poliklinik in der 8., Feldgasse, um dort die hygienisch-bakteriologische Untersuchungsanstalt anzusiedeln, die zuvor unter schwierigen Umständen im Karolinen-Kinderspital untergebracht gewesen war. Diese Anstalt verfügte auch über eine Tuberkuloseabteilung, deren Einrichtung von UNICEF gespendet worden war.

Trinkwasseruntersuchung in der Hygienisch-bakteriologischen Untersuchungsanstalt, 17. August 1954

Mobiles Röntgengerät

Ein mobile Röntgenstation, ein Steyr-Lastkraftwagen samt Anhänger, der mit einer Röntgenanlage bestückt wurde, die UNICEF bereits 1951 gespendet hatte, wurde im April 1945 in Betrieb genommen. Der Anhänger diente als Aufnahme-, Untersuchungs- und Warteraum, zur Bedienung des Gesamtgefährts waren drei Personen nötig. Pro Stunde waren 100 Untersuchungen möglich, pro Jahr 100.000. Der Wagen kam zunächst in Schulen in Verwendung, in weiterer Folge auch in Randgebieten der Stadt und schließlich in Großbetrieben.

Präsentation eines neuen Röntgenwagens durch das Gesundheitsamt, 14. April 1953

Siehe auch:

Quellen

Literatur

  • Elisabeth Dietrich-Daum, Die "Wiener Krankheit" : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32, Wien : Verlag für Geschichte und Politik 2007
  • Ermar Junker, Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Wien 1998.
  • Ermar Junker, BCG-Impfung aus heutiger Sicht. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 91(1990)12, S. 3-7.
  • Ermar Junker, Beurteilung der tatsächlichen Tuberkulosesituation in einer Großstadt (SD aus „8. Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Tuberkulose und Lungenerkrankungen“ Pörtschach, 23. bis 26. Mai 1965)
  • Ermar Junker, H. Klima: Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In: Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 158-167.
  • Ermar Junker/Beatrix Schmidgruber/Gerhard Wallner: Die Tuberkulose in Wien. Wien: Literas 1999
  • H. Klima, Ermar Junker, Tuberkulintestungen in Wien – Rückblick, Ausblick. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 87/1 (1986), S. 1-4

Referenzen

  1. Ermar Junker, H. Klima, Die Entwicklung der Tuberkulose in Wien seit dem zweiten Weltkrieg. In: Der Tuberkulosearzt 16 (1962), S. 159-161.
  2. Ermar Junker, Vom Pestarzt zum Landessanitätsdirektor. 450 Jahre öffentlicher Gesundheitsdienst in Wien, Wien 1998, S. 68, 70.
  3. H.Klima, Ermar Junker, Tuberkulintestungen in Wien – Rückblick, Ausblick. In: Mitteilungen der Österreichischen Sanitätsverwaltung 87/1(1986), S. 2-3.
  4. Die Verwaltung der Stadt Wien 1950-1951, S. 158
  5. Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit" : Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32, Wien : Verlag für Geschichte und Politik 2007, S. 320, 343.