Leopold Kunschak
Leopold Kunschak, * 11. November 1871 Wien, † 13. März 1953 Wien, Sattler, Gewerkschafter, Politiker.
Biografie
Leopold Kunschak wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach sechs Klassen Volksschule arbeitete er zunächst in einer Setzerei, wechselte dann aber aus gesundheitlichen Gründen zum Sattlerhandwerk, in dem er die Gesellenprüfung ablegte. Ab 1889 war er in diesem Beruf bei der Simmeringer Waggonfabrik tätig.
Während des Tramwaykutscherstreiks 1889 kam er erstmal in Berührung mit sozialen Problemen und entschloss sich, eine christliche Arbeiterbewegung für jene Werktätigen zu gründen, die sich aus weltanschaulichen Gründen nicht der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung anschließen wollten. Gestützt auf die 1891 veröffentlichte Sozialenzyklika Papst Leos XIII. ("Rerum novarum") nahm er Kontakt zum Christlichsozialen Albert Geßmann, einem engen Gefolgsmann Karl Luegers, auf.
Christlichsoziale Bewegung
Am 21. September 1892 wurde im Extrazimmer des Gasthauses Kaiser in der Thaliastraße der organisatorische Grundstein zu den Christlichsozialen Arbeitervereinen gelegt. 1895 gründete Kunschak die Vereinszeitung "Die Freiheit", ab 1900 "Christlich-Soziale Arbeiterzeitung", für die er auch als Redakteur tätig war. Am 5. Jänner 1896 konnte die erste Generalversammlung der christlichsozialen Arbeiter einberufen werden. Obwohl Lueger und Geßmann ursprünglich Gegner jeder Zersplitterung der christlichsozialen Bewegung waren, erkannten sie das (Wähler-)Potenzial der Organisation Kunschaks.
Leopold Kunschak kandidierte erstmals 1904 für die Christlichsoziale Partei im 13. Bezirk für den vierten Wahlkörper und gehörte ab diesem Zeitpunkt dem Gemeinderat der Stadt Wien an. In den Reichsrat zog er 1907 als Abgeordneter ein, verlor aber 1911 wieder sein Mandat. Als Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag fungierte er von 1909 bis 1915 und avancierte im Oktober 1913 zum Mitglied des Landesausschusses (entspricht dem heutigen Landesrat) des Bundeslandes.
Als nach dem Tod Luegers 1910 einige seiner Anhänger, etwa Ernst Vergani und Pattai, die Christlichsoziale Partei in eine eher deutschnationale Richtung lenken wollten, wandte sich Kunschak energisch gegen diese Absicht und vermochte am 24. Juli 1911 in einer Versammlung im Arkadenhof des Wiener Rathauses die Anhängerschaft dagegen zu mobilisieren. Als Abgeordneter setzte er sich besonders für die Abschaffung der Sonntags- und Nachtarbeit ein, beschäftigte sich in der Folge aber praktisch mit allen relevanten Fragen der Armenfürsorge, Kranken- und Altersversorgung, Arbeitslöhne und Steuergesetzgebung sowie mit aktuellen Wirtschafts- und Zollproblemen.
Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Kunschak der Provisorischen Landesversammlung Niederösterreich und ab 1919 der Konstituierenden Nationalversammlung an. 1920 wurde er als Abgeordneter in den Nationalrat gewählt, dem er bis zu dessen Auflösung 1934 angehörte. Von 1920 bis 1921 fungierte er als Obmann der christlichsozialen Reichsparteileitung.
Oppositionspolitiker und Mahner
Auf kommunaler Ebene gehörte Kunschak durchgehend bis 1934 dem (vorerst Provisorischen) Gemeinderat und ab 1920 dem Wiener Landtag an. Außerdem bekleidete er von 1922 bis 1934 die Funktion eines Stadtrats ohne Ressort. Kunschak war Wortführer der christlichsozialen Opposition gegen das Rote Wien. Nach den Juliereignissen 1927 mahnte er alle Lager vor den Gefahren, die sich aus der Aufstellung von Wehrverbänden ergaben, und trat gegen die antidemokratische Haltung der Heimwehren auf. Er versuchte noch im Jahr 1934 zwischen den Parteien zu vermitteln, so in einer eindringlichen Rede am 9. Februar 1934 vor dem Gemeinderat, in der er sich bemühte, die konfrontative Entwicklung hin zu den Februarkämpfen zu bremsen. In der Zeit des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes war Kunschak Mitglied des Staatsrats, eines beratenden Gremiums der Bundesregierung.
Aggressiver Antisemit
Leopold Kunschak war mit Karl Lueger befreundet und gilt als sein politischer Erbe. Er zählte zu den verbal aggressivsten Antisemiten seiner Partei. Kunschak agitierte in den Jahren um und nach dem Ersten Weltkrieg in seinen Reden im Nationalrat gegen ostjüdische Flüchtlinge. Er geißelte die "judenliberale Presse" und polemisierte gegen die "Verjudung" der Wissenschaften und im öffentlichen Dienst. Bereits 1920 sprach sich Kunschak unter anderem für die Ausweisung der jüdischen Bevölkerung oder deren Internierung in "Konzentrationslagern" aus. Ein von ihm 1919 vorgelegter Gesetzesentwurf, der für jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger eigene Sondergesetze vorsah, wurde nicht veröffentlicht. Im Jahr 1936 - ein paar Monate davor waren in Deutschland die Nürnberger Rassegesetze erlassen worden - griff er diese Ideen jedoch wieder auf und forderte unter anderem für Juden und Jüdinnen eigene Schulen, "Judenkataster" sowie Zugangsbeschränkungen zu Stellen im öffentlichen Dienst und an Universitäten. - Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass Kunschak sogar noch nach 1945 antisemitische Aussagen tätigte.[1]
Repräsentant eines demokratischen Österreich
Kunschak wurde nach dem "Anschluss" 1938 und auch 1944 aus politischen Gründen verhaftet und im Wiener Polizeigefangenenhaus inhaftiert. Es gelang ihm, trotz polizeilicher Überwachung Kontakt zur christlichen Widerstandsgruppe um Lois Weinberger zu halten. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnete Kunschak gemeinsam mit Karl Renner und Johann Koplenig am 27. April 1945 die Proklamation, mit der das demokratische Österreich wiederhergestellt wurde. Er wurde am 25. November 1945 wieder in den Nationalrat gewählt, dessen Erster Präsident er bis zu seinem Tod war. Kunschak war 1945 Mitbegründer der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und von deren Arbeitnehmerorganisation, dem Österreichischen Arbeiter- und Angestelltenbund (ÖAAB).
Auf Wiener Ebene zog er im Dezember 1945 wieder in den Wiener Landtag und Gemeinderat ein, dem er bis Mai 1946 angehörte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit fungierte er auch als Vizebürgermeister und als Amtsführender Stadtrat der Geschäftsgruppe Schulwesen. Die Funktion des Landeshauptmann-Stellvertreters hatte er von Oktober 1945 bis Februar 1946 inne. Zudem war er 1945 vorübergehend auch geschäftsführender Präsident des Wiener Stadtschulrats.
Ehrungen
Kunschak wurde 1948 zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt und seit 1965 werden Leopold-Kunschak-Preise zu seinem Gedenken vergeben. 1971 nannte man die Eigentumswohnhausanlage Leopold-Kunschak-Hof in Wien-Simmering nach dem Politiker, dort erinnert ein Porträtrelief an ihn. Eine Gedenktafel befindet sich auch an der städtischen Wohnhausanlage Bergsteiggasse 28 und der Leopold-Kunschak-Platz in Wien-Hernals wurde ebenso nach dem Politiker benannt.
Eine von der Stadt Wien eingesetzte Kommission zur Prüfung der Wiener Straßennamen hat 2013 die Benennung von städtischen Verkehrsflächen nach Leopold Kunschak aufgrund dessen Antisemitismus als "Fall mit intensivem Diskussionsbedarf" eingestuft.
Quellen
- Leopold Kunschak: Steinchen vom Wege. Memoiren. Wien: Typographische Anstalt 1937
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Fotosammlung, FF.93 - Josef Müller-Fembeck (1920-1930)
- Wienbibliothek im Rathaus/Tagblattarchiv: Kunschak, Leopold. 5 Bände (Sign.: TP-027937)
- Wienbibliothek Digital: Kommunalkalender von 1905 bis 1918
- Wienbibliothek Digital: Kunschak, Leopold
Literatur
- Isabella Ackerl / Friedrich Weissensteiner: Österreichisches Personenlexikon der Ersten und Zweiten Republik. Wien: Ueberreuter 1992
- Peter Autengruber, Lexikon der Wiener Straßennamen. Bedeutung, Herkunft, frühere Bezeichnungen. 9. Aufl. Wien: Pichler Verlag 2014, S. 184
- Peter Autengruber / Birgit Nemec / Oliver Rathkolb / Florian Wenninger: Umstrittene Wiener Straßennamen. Ein kritisches Lesebuch. Wien: Pichler Verlag 2014, S. 157–160
- Peter Autengruber / Birgit Nemec / Oliver Rathkolb / Florian Wenninger: Forschungsprojektendbericht "Straßennamen Wiens seit 1860 als 'Politische Erinnerungsorte'". Wien 2013
- Franz Bauer: Leopold Kunschak als Politiker. Diss. Univ. Wien. Wien 1950
- Kurt Bauer: Der "Anschluss" und der Judenhass einer ÖVP-Ikone. In: Der Standard, 13.03.2013
- Getrude Enderle-Burcel: Mandatare im Ständestaat 1934–1938. Wien: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes [u. a.] 1991
- Hans Havelka: Der Wiener Zentralfriedhof. Wien: Jugend und Volk 1989, S. 81
- Hanns Jäger-Sunstenau: Die Ehrenbürger und Bürger ehrenhalber der Stadt Wien. Wien: Deuticke 1992 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte, 23), S. 69
- Walter Kleindel: Das große Buch der Österreicher. 4500 Personendarstellungen in Wort und Bild, Namen, Daten, Fakten. Unter Mitarbeit von Hans Veigl. Wien: Kremayr & Scheriau 1987
- Wienbibliothek Digital: Oswald Knauer: Der Wiener Gemeinderat 1861–1962. In: Handbuch der Stadt Wien. Band 77. Wien: Verlag für Jugend und Volk 1963 [Stand: 14.07.2020]
- Paul Mychalewicz: Wie "unbelehrbar" war Leopold Kunschak wirklich? In: Der Standard, 16.03.2013
- Ludwig Reichhold: Leopold Kunschak. Von den Standesbewegungen zur Volksbewegung. Wien: Karl von Vogelsang-Institut, Politische Akademie 1988 (Reihe Kurzbiographien, 4)
- Maren Seliger / Karl Ucakar: Wien. Politische Geschichte 1740–1895. Wien: Jugend & Volk 1985 (Geschichte der Stadt Wien, 1)
- Wolfgang Solt: Mitglieder des Gemeinderates der Stadt Wien (Wiener Landtages) und des Stadtsenates der Stadt Wien (der Wiener Landesregierung) 1918–1934. Wien: 1995
- Franz Stamprech: Leopold Kunschak – Porträt eines christlichen Arbeiterführers. Wien: Verlag der Freiheit 1953
- Kurt Stimmer [Hg.]: Die Arbeiter von Wien. Ein sozialdemokratischer Stadtführer. Wien [u. a.]: Jugend & Volk 1988, S. 321
Leopold Kunschak im Katalog der Wienbibliothek im Rathaus.
Weblinks
- Website Kurt Bauer: Kunschak-Kontroverse
- Parlament: Leopold Kunschak
- Austria-Forum: Leopold Kunschak
- Gustav Otruba: Kunschak, Leopold. In: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 301–302
- Biographisches Lexikon des Österreichischen Cartellverbands: Leopold Kunschak
- Biographisches Handbuch des NÖ Landtages 1861–1921
- POLAR – Wiener Politikerinnen und Politiker Archiv: Leopold Kunschak
- Wienbibliothek im Rathaus: Webausstellung Die Zerstörung der Demokratie. Österreich, März 1933 bis Februar 1934
Referenzen
- ↑ Der deutschsprachige Wikipediaartikel zu Leopold Kunschak fasst die Diskussion darüber zusammen und referiert die neu aufgefundenen Belege aus dem Jahr 2023.