Der Choleraerreger
Nach dem Ausbleiben der Pest-Epidemien nach 1713 schien es, als ob die Maßnahmen der "medizinischen Polizey" (Pestkordon, Quarantäne, Pflasterungen) ausreichen würden, um die Wiener Bevölkerung vor dem Ausbruch größerer Epidemien (mit Ausnahme von Kriegszeiten) zu schützen. Zu Beginn der 1830er Jahre brach jedoch eine in Europa bisher unbekannte, neue Seuche, die Cholera, wie eine Naturkatastrophe über den Kontinent herein, vor der die herkömmlichen behördlichen Gegenmaßnahmen weitgehend versagen sollten. Das cholera vibrio, der bakterielle Krankheitserreger der Cholera, entwickelt sich bei feuchtwarmen Temperaturen bevorzugt in stehenden Gewässern oder Brackwasser. Der Erreger kann in Gemüse, Milch oder Obst relativ lange überleben. Die Infektion des Menschen erfolgt immer über den Mund, sei es durch den Genuss infizierter Lebensmittel, die Berührung von verseuchten Gegenständen, vor allem aber durch das Trinkwasser in Wasserleitungen, in denen die Erreger über die Ausscheidungen Infizierter, die nicht unbedingt immer erkranken müssen, gelangen.
Übertragungswege
Ihren Ausgangspunkt nahm die Cholera am indischen Subkontinent, auf dem sie lange endemisch auftrat. In den 1820er Jahren näherte sie sich schrittweise Europa. Über das russische Schwarzmeergebiet erreichte sie 1830 Ostgalizien und drang trotz der bestehenden Kordons ins nördliche Ungarn vor. Die Seuche erreichte Wien Mitte August 1831 und brach schließlich voll in der Nacht vom 13. auf den 14. September aus. Ihr plötzliches Erscheinen rief eine ähnliche Panik hervor, wie man sie zu Zeiten der Pestepidemien kannte. Erst im Frühjahr 1832 schien sie völlig abzuklingen, ehe im Juni 1832 eine zweite Seuchenwelle Wien erfasste und bis zum September in Atem hielt. Fast jeder/e 50. erkrankte und jeder/e 100. starb an der Cholera.
Die Cholera wurde über das Wasser des Wienflusses und der Donau transportiert, in die (in Ermangelung einer Kanalisation) die Abwässer aus den Vorstädten flössen; über das Grundwasser gelangten sie in die Hausbrunnen und verseuchten diese. Es mussten Sonderabteilungen in allen Spitälern (mit circa 80-100 Betten) sowie Notspitäler eingerichtet werden (beispielsweise im Stadtkonvikt, in der Jägerzeile, im Apollosaal (7), im Graf-Chotek'schen Gebäude am Strozzigrund [8], im Blauen Herrgott [9], aber auch in den Vororten (zum Beispiel 18, Währinger Straße 176; für Währing und Weinhaus).
Chronologie der Epidemien
In der Folge suchten in den Jahren 1836, 1849, 1854/55, 1866 und schließlich 1873 weitere schwere Cholera-Epidemien Wien heim. Insgesamt kosteten in der Periode 1831-1873 Choleraepidemien rund 18.000 Wienerinnen und Wienern das Leben. Auf 100.000 Einwohner kamen etwa im Jahr 1836 rund 690, 1866 510 und 1873 430 Cholerasterbefälle. Nach 1873 blieben große Cholera-Epidemien in Wien aus. Erst in der letzten Phase des Ersten Weltkrieges trat die Krankheit noch einmal epidemisch auf, forderte allerdings nur wenige Opfer.
1849 gab es ein Cholera-Notspital im Augarten, ebenso mussten 1854 Notspitäler eingerichtet werden; zu den prominenten Opfern zählten beispielsweise Moritz Michael Daffinger (1849), Johann Baptist Corti, Josef Georg Daum (beide 1854) und Louise Gleich-Raimund (1855). Leiter der Choleraabteilung im Allgemeinen Krankenhaus war 1854/1855 Anton Drasche.
Während des preußisch-österreichischen Krieges verstarben zwischen 27. August und 7. September 1866 in der Garnison Ebersdorf infolge schlechter sanitärer Verhältnisse 40 Soldaten des k.k. Linien-Infanterie-Regiments Nummer 74 "Graf Nobili" an der Cholera (Gedenkstein 11, Zehngrafweg; hier wurden die Opfer beerdigt).
Choleraepidemie während der Weltausstellung
Die letzte schwere Choleraepidemie fällt in das Weltausstellungsjahr 1873; da die ersten Erkrankungen im "Weltausstellungshotel" Donau (2, Nordbahnstraße 50) auftraten (von 13 Erkrankten sind acht gestorben), verließen viele Besucher fluchtartig die Stadt und viele andere stornierten ihre Buchungen. Von Juli bis Oktober starben 2.983 Menschen (in der gesamten Monarchie belief sich die Zahl der Opfer auf fast eine halbe Million). 1874 gab es Choleraerkrankungen in einem Erdberger Wohnhaus.
Cholerabekämpfung
Vor der Entdeckung des cholera vibrio mußten sich die Maßnahmen der Sanitätsbehörden an zum Teil ganz abstrusen Theorien der Mediziner über die Ursachen der Entstehung der Cholera orientieren. Einigen wenigen Zeitgenossen fiel jedoch schon in den 1830er Jahren auf, dass sich die Krankheit über das Grund- und Brunnenwasser verbreitete und wegen der miserablen hygienischen Zustände in manchen Wohnvierteln besonders günstige Ausbreitungsmöglichkeiten fand. Angesichts der fehlenden Wirkung von Quarantänemaßnahmen verschaffte die Cholera der Miasmenlehre einen kräftigen Aufschwung und somit auch der von Max von Pettenkofer in den 1860er Jahren entwickelten Miasmentheorie, nach der sich die Cholera vornehmlich durch eine oberhalb des Grundwassers gelegene Schicht übertrage, die ein durch Bodenverseuchung entstehendes Miasma an die Luft abgibt. Pettenkofers einflussreiche, aber falsche Theorie wäre an sich von geringem Interesse geblieben, hätte er sie nicht mit einer Reihe hygienisch richtiger, prophylaktischer Maßnahmen verknüpft, die für die Bekämpfung der Cholera in Mitteleuropa eine gewisse Wirkung nicht verfehlten. Tatsächlich bildete verseuchtes Trinkwasser ein wichtiges Element der Choleraverbreitung. Nicht zu Unrecht wurde daher die Cholera als "große Lehrmeisterin" der wissenschaftlichen Hygiene bezeichnet.
Während der ersten Epidemie wurden rasche Abwehrmaßnahmen durch die starre Haltung der Gesundheitsbehörden verhindert; das Apothekergremium richtete zur besseren Bekämpfung der Seuche Filialapotheken ein. Johann Christian Schiffner, der sich als Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Verdienste erworben hat, wurde 1834 zum Ehrenbürger ernannt, später auch (im Zusammenwirken mit anderen Verdiensten) Leopold Prosky (Einrichtung von Choleraspitälern), Johann Freiherr Talatzko von Gestieticz (Präsident der niederösterreichischen Regierung) und Joseph Johann Knolz (Referent für Choleraangelegenheiten bei der niederösterreichischen Regierung).
Die Reaktionen auf die Epidemie folgten in den nächsten Jahren: der Bau der Wienflusssammelkanäle (siehe Cholerakanäle) und der Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung, die allerdings nur Wasser aus der Donau filterte und daher keine endgültige Lösung des Problems darstellte.
Ab den 1860er Jahren setzten die Wiener Gesundheitsbehörden verstärkt auf chemische Desinfektionsmittel. Seit der Epidemie von 1866, und bereits im Vorfeld der großen Choleraepidemie des Jahres 1873, forcierten sie die Desinfektion öffentlicher WC-Anlagen und Kanäle mit roher Karbolsäure, schwefelsaurem Kalk und Eisenvitriol. Dank dieser, etwa im 1. Bezirk ziemlich lückenlos durchgeführten, Maßnahme, blieb die Wirkung der Choleraepidemie in Wien deutlich hinter der in anderen Teilen der Monarchie zurück und konzentrierte sich innerhalb der Stadt - anders als bei den frühen Epidemien - vor allem auf Elendsviertel. Erst auf der Basis der Entdeckung des cholera vibrios durch Robert Koch in den 1880er Jahren wurde die Cholerabekämpfung jedoch auf eine fundierte wissenschaftliche Basis gestellt. 1884 wurde ein Choleraregulativ ausgearbeitet und wenig später erlassen, das unter anderem die Desinfektion mit einer 5%igen Carbollösung, die Auskalkung der betroffenen Wohnungen und die Reinigung der Aborte mit roher Karbolsäure vorsah. Diese Maßnahmen trugen vermutlich dazu bei, dass eine kleinere Epidemie im Jahr 1886 nur noch wenige Opfer forderte. Allerdings zielten die eingesetzten Desinfektionsmittel in gewisser Weise noch immer auf eine Desodorisation und nicht auf eine tatsächliche Desinfektion. Um die Jahrhundertwende entwickelte die chemische Industrie daher neue Desinfektionsmittel wie Formalin, die ihrer Bezeichnung nun tatsächlich gerecht wurden.
Soziale Ungleichheit vor dem Tod
Die verschärfte soziale Ungleichheit vor dem Tod erklärt sich bei der Cholera aus der Entstehung zentraler, aber zunächst noch durch unzulängliche Filterung bzw. schlechte Flusswasserqualität gekennzeichnete Trinkwasserversorgungen im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, die regionale Lagefaktoren in den Hintergrund drängten. Bei den Epidemien von 1866 und 1873 starben an der Cholera zunehmend nur noch Personen aus unterprivilegierten Schichten, die in Stadtteilen mit schlechter Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung unter häufig katastrophalen hygienischen Bedingungen leben mussten. Begünstigt wurde diese Konzentration der Choleramortalität auf die ärmsten Bevölkerungsschichten durch die Bedeutung der Bevölkerungsdichte für die Choleraverbreitung.
Siehe auch
Quellen
Literatur
- Andreas Weigl: Cholera. Eine Seuche verändert die Stadt (Veröffentlichung des Wiener Stadt- und Landesarchivs, B98), Wien: 2018
- Othmar Birkner: Die bedrohte Stadt. Cholera in Wien (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 35), Wien: Franz Deuticke 2002
- Andreas Weigl, Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien (Kommentare zum Historischen Atlas von Wien 1), Wien: Pichler Verlag 2000, S. 237-242
- Wolfgang Pircher, Andreas Pribersky: Die Gesundheit, die Polizei und die Cholera. in: Renate Banik-Schweitzer et al., Wien im Vormärz (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 8), Wien: Jugend & Volk 1980 S. 202-214
- Raimund Triml: Die erste Cholera-Epidemie in Wien in den Jahren 1831 und 1832 (ungedr.phil. Diss.). Wien 1992
- Felix Czeike: Die Cholera in Wien. 1831 und die Apotheker. In: Österreichische Ärztezeitung 1957, S. 391 ff.
- Felix Czeike: Pharmazeutische Maßnahmen gegen die Choleraepidemie 1831/1832. In: Wiener Geschichtsblätter 46 (1991), S. VI ff.
- Anton Drasche: Statistisch-graphische Darstellung der Cholera-Epidemie in Wien während des Jahres 1873. Wien: Selbstverlag 1874
- Anton Drasche: Vorschlag und Begründung einer in Wien baldigst abzuhaltenden internationalen Cholera-Konferenz. Wien: W. Braumüller 1873
- Anton Drasche: Die epidemische Cholera. Eine monographische Arbeit. Wien: C. Gerold 1860
- Joseph Johann Knolz: Darstellung der Brechruhr-Epidemie in der k.k.Haupt- und Residenzstadt Wien wie auf dem flachen Lande in Oesterreich unter der Enns, in den Jahren 1831 und 1832, nebst den dagegen getroffnen Sanitäts-polizeylichen Vorkehrungen. Wien: Mayer & Co. 1834