Volksgericht Wien
Das Wiener Volksgericht wurde 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Alliierten Besatzung (1945-1955) im Zuge der Entnazifizierung zur Verurteilung von NationalsozialistInnen und nationalsozialistischen Verbrechen als erstes Volksgericht eingerichtet. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür stellten das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz dar. Die Bezeichnung als ‘Volksgerichte’ wurde bewusst in Anlehnung an den Volksgerichtshof im Nationalsozialismus vorgenommen, was nicht überall gut ankam. So gab es dafür beispielsweise Kritik von der US-amerikanischen Besatzung.
Die Stellung der Volksgerichte
Die Volksgerichte wurden als eigene Senate eingerichtet und bekamen eine Stellung zwischen Sondergerichtsbarkeit und ordentlicher Gerichtsbarkeit. Um die Verfahren zu beschleunigen waren dort keine bei ordentlichen Gerichtsverfahren vorhandenen Rechtsmittel möglich , wie Einspruch, Berufung, Nichtigkeitsbeschwerde oder Beschwerden gegen Beschlüsse des Gerichts. In Ausnahmefällen konnte ein außerordentliches Milderungsrecht als einziger Weg, um ein Urteil anzufechten, vollzogen werden. Dies erforderte ein Überprüfungsverfahren beim Obersten Gerichtshof und führte zu einer neuerlichen Verhandlung bei dem selben oder einem anderen Gericht.
Die Neuordnung der österreichischen Justiz 1945
Seit April 1945 wurde neben der österreichischen Verwaltung auch die Justiz unter der Kontrolle der Alliierten Besatzung neu geordnet. Sie wurde ab dem 15. Mai 1945 wieder eingesetzt, am 3. Juli 1945 trat ein neues Gerichtsorganisationsgesetz in Kraft, das die Rückkehr zu Gerichtsstrukturen vor 1938 ermöglichte.
Allerdings ergaben sich Unterschiede bei der Handhabung der Alliierten in den jeweiligen Besatzungszonen: Im Gegensatz zu den von französischen, britischen oder US-amerikanischen Truppen besetzten Gebieten, griff die sowjetische Besatzungsmacht in von ihr besetzten Zone und in Wien nicht in die Justizverwaltung ein. Somit bestand in Wien kein offizielles Gericht der russischen Militärverwaltung, das wie die westlichen alliierten Gerichte parallel zu österreichischen Gerichten die Strafgerichtsbarkeit ausführte.
Die Lage und Tätigkeit des Volksgerichts Wien
Das Volksgericht Wien war beim Landesgericht Wien angesiedelt. Verhandlungen fanden aber auch in anderen Gerichten, wie dem Bezirksgericht Favoriten (10, Angeligasse 35), statt. Die Untersuchungshäftlinge wurden im Landesgerichtsgebäude I, dem sogenannten ‘Grauen Haus‘, (8, Landesgerichtsstraße 9A-11) dem Bezirksgericht Favoriten, dem ehemaligen Landesgerichtsgebäude II (8, Hernalser Gürtel 6-12) und dem Fünfhaus untergebracht.
Da es für die sowjetische Besatzungszone verantwortlich war, bezog es sich auf den Sprengel des Oberlandesgerichts Wien und war somit für die Bundesländer Wien, Niederösterreich und das Burgenland sowie das sowjetisch besetzte Mühlviertel zuständig. Zusätzlich überstellte die britische und US-amerikanische Besatzung von Anfang bis Mitte 1946 österreichische TäterInnen an das Volksgericht Wien. Die Verfolgung von AusländerInnen blieb hingegen den alliierten Gerichtshöfen vorbehalten.
Die Volksgerichte waren nach dem Verbots- und dem Kriegsverbrechergesetz für folgende Straftatbestände zuständig:
- Kriegsverbrechen im engeren Sinn und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Kriegshetze
- Quälereien und Misshandlungen
- Verletzungen der Menschenwürde
- Vertreibung, Enteignung sowie Aus- und Umsiedlung
- missbräuchliche Bereicherung, wie beispielsweise in Folge von Arisierungen
- Denunziation
- Hochverrat an Österreich, beispielsweise durch die propagandistische Verbreitung des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich oder durch die Mitgliedschaft bei der NSDAP vor dem Anschluss
- Übernahme von Funktionen in der NDSAP
RichterInnen und StaatsanwältInnen am Volksgericht Wien
Die RichterInnen und StaatsanwältInnen bei Volksgerichten waren meist am Landesgericht oder bei ‘normalen‘ Strafverfahren eingesetzt, so dass die RichterInnen meist vom Landesgericht Wien kamen und die Wiener Staatsanwaltschaft vorwiegend die StaatsanwältInnen stellte.
Ein Senat am Volksgericht bestand aus zwei BerufsrichterInnen, drei SchöfInnen beziehungsweise LaienrichterInnen sowie einer Person, die für Schriftführung zuständig war. Den Vorsitz stellte jeweils eine oder einer der BerufsrichterInnen. Ende 1945 agierten mehrere Senate in Wien gleichzeitig mit durchschnittlich drei Verhandlungen pro Tag.
Die Voraussetzung für die Tätigkeit am Volksgericht war, politisch unbelastet zu sein. Dort tätige RichterInnen und StaatsanwältInnen durften keine NSDAP-Mitglieder gewesen oder anderweitig belastet sein. Dies erschwerte, die benötigte Anzahl an RichterInnen und StaatsanwältInnen aufzustellen. Zudem wurden aufgrund der Entnazifizierung des Justizressorts, infolge der ‘Illegale’ und NSDAP-FunktionärInnen entlassen, pensioniert oder außer Dienst gestellt wurden, ergab sich dort ein genereller Personalmangel.
Der Ablauf der Verfahren
Verfahren am Volksgericht begannen meist mit einer Anzeige bei der Polizei oder von Amts wegen, die an Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurde. Auf die Festnahme der Verdächtigen folgte die Ersteinvernahme, woraufhin bei der Verstärkung des Verdachts eine Voruntersuchung eingeleitet und Untersuchungshaft verhängt wurde. Die Aufgabe der Sammlung von Beweisen bei der Voruntersuchung lag bei der Polizei und dem Gericht und stellte den größten Teil des Verfahrens dar. Dazu kam die lange Vernehmung von Beschuldigten und die Erhebungen von Kriminalpolizei und Staatspolizei – wie Ermittlungen bei der Registrierungsbehörde für NationalsozialistInnen. Nicht gewertet wurden jedoch Personen, die als ‘SchreibtischtäterInnen’ klassifiziert wurden.
Bei den ZeugInnen galt ebenso wie bei den RichterInnen und StaatsanwältInnen der Umstand, dass diese ‘politisch einwandfrei‘ waren, als essentiell. Personen aus dem näheren Umfeld, die keine NSDAP-Mitglieder gewesen waren, stellten deshalb für Angeklagte wichtige ZeugInnen dar. Noch bedeutender waren jedoch positive Stellungnahmen zu einer Person von SPÖ, ÖVP oder KPÖ, die auch als sogenannte ‘Persilscheine’ bezeichnet wurden.
Bei der Vorlage von genug Beweismaterial erstellte die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift, in der das vorgeworfene Verbrechen und die Beweise festgehalten waren. Aspekte, die vom Gericht nicht bewiesen werden konnten, waren darin nicht enthalten, was die Anzahl der Anklagen auf eindeutig nachweisbare Vergehen, wie beispielsweise eine NSDAP-Mitgliedschaft vor 1938, reduzierte. Die Gerichtsverfahren dienten in der Regel vorrangig der Rechtsprechung, aber nicht der Wahrheitsfindung. Die Urteile zeigten somit wenig Nachhaltigkeit.
Bei Urteilsverkündung musste die Haft sofort angetreten werden. Gleichzeitig wurden meist sofort Gnadengesuche und Gesuche um Haftentlassung oder Wiederaufnahmeanträge begonnen. Darüber entschied ein Volksgerichtssenat.
Das Ende der Volksgerichtsbarkeit
Verschiedene Seiten übten auch Kritik an der Volksgerichtsbarkeit: So bestanden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausnahmegesetze, der nachlässigen und langsamen Verfolgung von TäterInnen und dem selektiven Umgang mit Verdächtigen.
In Wien wurden insgesamt 52.601 Verfahren abgewickelt. Bei 13.561 Personen wurde Anklage erhoben und davon bei 11.230 Personen ein Urteil ausgesprochen. 6.701 Angeklagte wurden schuldig und 4.529 frei gesprochen. Die Schuldsprüchen bezogen sich in 28 Fällen auf die Todesstrafe, in 20 Fällen auf lebenslange Haft, in 146 Fällen auf zehn bis 20 Jahre Haft, in 279 Fällen auf fünf bis neun Jahre Haft, in 3.865 auf ein bis fünf Jahre Haft und in 2.358 Fällen auf bis zu einem Jahr Haft. Insgesamt war der Prozentsatz der Verurteilungen am Volksgericht in Wien am höchsten. Bis Ende Jänner 1949 fielen 91% aller Schuldsprüche.
Ein Ziel der österreichischen Regierung stellte die Einstellung der Volksgerichte 1950 und die Durchsetzung von Amnestiegesetzen 1952 für verurteilte Registrierungs- und WahlbetrügerInnen dar, was allerdings am alliierten Widerstand scheiterte. Stattdessen erfolgten großteils persönliche Begnadigungsakte durch Theodor Körner (Politiker), der zu dieser Zeit Bundespräsident war. Ausnahmebestimmungen für ‘Minderbelastete’ waren bereits 1947 durch das Nationalsozialistengesetz geregelt worden.
Nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrags 1955 wurden die Volksgerichte und somit auch das Volksgericht Wien geschlossen.
Siehe auch: Internierungslager der Staatspolizei für ehemalige NationalsozialstInnen in Wien
Quellen
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht, Vg Vr-Strafakten
Literatur
- Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider: Die Verfahren vor dem Volksgericht Wien (1945-1955) als Geschichtsquelle. Projektbeschreibung. Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes 1993, S. 23f., 28, 113.
- Roland Pichler: Volksgerichtsbarkeit und Entnazifizierung - unter besonderer Berücksichtigung der Verfahren gegen Frauen vor dem Volksgericht Wien. Dissertation. Universität Wien. Wien, 2016 (PDF, othes.univie.ac.at; 8 MB).
- Brigitte Rigele: Verhaftet. Begnadigt. Davongekommen. Verfahren vor dem Volksgericht Wien 1945-1955. Wien: Verein für Geschichte der Stadt Wien 2010 (=Wiener Geschichtsblätter, Beiheft 1/2010), S. 3, 5 ff.