Flüchtlinge
Als Flüchtlinge gelten nach der Genfer Flüchtlingskonvention Personen, die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befinden, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen wollen.
Flüchtlinge im Ersten Weltkrieg
Die Geschichte der Zwangsmigrationen erlebte während des Ersten Weltkriegs ihren ersten temporären Höhepunkt. Im Kriegswinter 1914/15 strömten infolge russischer Militäroffensiven zeitweise mehr als 200.000 überwiegend jüdische Flüchtlinge von der Ostfront nach Wien. Viele davon kehrten schon um 1916 in die überwiegend galizischen Heimatgebiete zurück. Etwa 20.000 bis 30.000 dieser Flüchtlinge blieben auch nach Ende des Krieges in Wien, obwohl es nicht an Versuchen der Behörden mangelte, sie in ihre Heimatländer abzuschieben. Siehe: Flüchtlinge 1918
Vertreibung aus Wien im Nationalsozialismus
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 begann eine Vertreibungs- und Vernichtungswelle beispiellosen Ausmaßes, der letztlich nahezu die gesamte jüdische Gemeinde Wiens zum Opfer fiel. In einer ersten Phase der Vertreibung bis Kriegsausbruch gelang etwa 125.00 bis 130.000 jüdischen Bürgern aus Österreich die Flucht, vor allem nach Großbritannien, die USA und China. Der überwiegende Teil von ihnen stammte aus Wien. 2844 jüdische Kinder wurden durch sogenannte Kindertransporte ins Ausland in Sicherheit gebracht. Infolge dieser Vertreibung und auch durch Mord sank die Zahl der Wiener Juden – die Wiener Israelitische Kultusgemeinde zählte zu Beginn des Jahres 1938 noch etwa 170.000 Mitglieder – dramatisch auf rund 90.000 im April 1939 und 65.000 gegen Ende dieses Jahres.
Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg
Seit Kriegsbeginn gelang nur noch wenigen die "Auswanderung", wenn dann fast ausschließlich nach Übersee (USA, China, stark eingeschränkt auch noch Palästina). Schon lange vor der sogenannten "Wannsee-Konferenz" (20.1.1942) setzte ab Herbst 1941 eine Phase systematischer Vernichtungspolitik ein. Am 23.10.1941 wurde die jüdische Auswanderung verboten. Die Deportationen gingen zunächst in das sogenannte "Generalgouvernement" und auch nach Riga und Minsk. Die letzte große Deportationswelle von Juni bis Oktober 1942 führte die Opfer nach Theresienstadt und schließlich Auschwitz (Oswiecim), wo sie auf die eine oder andere Art ermordet wurden. Insgesamt fielen ca. 65.000 österreichische Juden der "Endlösung" zum Opfer. Von 1943 bis Kriegsende befanden sich nur noch rund 5.000-6.000 Juden offiziell in Wien. Am 4. März 1945 waren es noch 5.243 Personen. Dabei handelte es sich großteils nach NS-Terminologie um sogenannte "Mischlinge 1. und 2. Grades", von denen laut Volkszählung 1939 14.858 bzw. 5.955 in Wien wohnhaft waren (Archiv Statistik), und jene die durch eine "Mischehe" der Verfolgung entgingen. Unter den vielleicht rund 150 Überlebenden "Glaubensjuden" - am 31.12.1944 waren es noch 1.053 - handelte es sich um eine kleine Zahl von Funktionären und Familienangehörigen des sogenannten "Ältestenrates". Diese vom NS-Regime oktroierte Nachfolgeorganisation der jüdischen Kultusgemeine wurde für die Organisation des „Holocaust“ missbraucht. Von diesen Mitarbeitern waren im Frühjahr 1943 noch rund 380 am Leben. Dazu kamen noch etwa 600 Verfolgte, die als U-Boote in Österreich, überwiegend in Wien überlebten.
Wie im Ersten Weltkrieg setzte auch im Verlauf des Zweiten eine enorme Zunahme erzwungener (Zwangsarbeiter) und teilweise freiwilliger (Flüchtlinge) Wanderungsbewegungen ein, deren Ausmaß nur bedingt rekonstruierbar ist. Beispielsweise wurden im Jahr 1943 211.609 polizeiliche Anmeldungen und 153.252 Abmeldungen in Wien registriert. Der positive Wanderungssaldo betrug demnach etwa 60.000 in einem Jahr. Diese Zahl ist insofern durchaus Ernst zu nehmen, als von einer hohen Genauigkeit der polizeilichen Meldestatistiken im NS-Regime auszugehen ist. Eine massenhafte Flucht der Wiener Bevölkerung vor der anrückenden Front nach Westen setzte ab Herbst 1944 ein. Von Anfang 1944 bis März 1945 betrug der Wanderungsverlust daher etwa 150.000. Mit dem Einsetzen der unmittelbaren Kriegshandlungen rund um Wien wanderten weitere 200.000 Personen aus Wien ab, sodass im Juli 1945 mit 1,323.758 Einwohnern ein Tiefststand der Bevölkerung im 20. Jahrhundert erreicht wurde. Seit dem Sommer 1945 strömten jedoch Rückwanderer, Flüchtlinge und Kriegsgefangene in die Stadt zurück. In der zweiten Jahreshälfte 1945 betrug der Wanderungsüberschuss etwa 300.000. Ungefähr genauso hoch war er von Ende 1945 bis Ende 1947.
Nach dem Zweiten Weltkrieg
Handelt es sich bei diesen Zahlen um nicht sehr präzise Schätzungen, sind einzelne Migrantengruppen genauer belegbar. Von 1. August 1945 bis Ende 1946 kehrten 65.000 Kriegsgefangene heim, das Gros davon im Jahr 1946. Weitere 15.000 folgten 1947, kleinere Gruppen in den folgenden Jahren bis 1955. Viele davon wurden notdürftig in Flüchtlingslagern untergebracht.
Die mit Abstand bedeutendste Gruppe unter den Migranten dieser Zeit bildeten jedoch flüchtende oder vertriebene deutschsprachige Bevölkerungsteile aus Ost- und Südosteuropa. Die Welle der Zuwanderung von aus ehemaligen Teilen Nazi-Deutschlands, aus von der Deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten oder aus Territorien verbündeter autoritärer Regime flüchtenden "Volksdeutschen" und die Rückwanderung von sogenannten "displaced persons" – deutsche Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Überlebende aus den Konzentrationslagern – hatte ihren Höhepunkt im Jahr 1945, reichte jedoch noch bis in die 1950er Jahre. Diese "ethnischen Flüchtlinge" stellten kurzfristig mehr als 10% der Wiener Bevölkerung (Perchinig 1992: 42). Der größte Zustrom sogenannter "Volksdeutscher" fiel in die Jahre 1945-1947. Etwa zwei Drittel dieser Flüchtlinge stammte aus der Tschechoslowakei, rund ein Fünftel aus Jugoslawien. Die Zahl der in Wien wohnhaften Ausländer betrug Ende 1947 128.793. Etwa 80.000 davon waren Volksdeutsche, rund 15.000 stammten aus Deutschland. Zum Vergleich dazu lag nach den Ergebnissen der Volkszählung des Jahres 1939 die Zahl der Ausländer bei 65.000, wobei 35.000 deutscher "Volkszugehörigkeit" waren. Deren Zahl hatte sich also während des Krieges selbst unter Berücksichtigung der Abwanderung nach Ende des Krieges mehr als verdoppelt. Durch zögerlich anlaufende Einbürgerungen – zunächst ausschließlich für altösterreichische Staatsbürger, die nicht der NSDAP angehörten – und Abwanderung nahm die Zahl dieser Flüchtlinge in der Folge laufend ab. Nach der Volkszählung 1951 betrug die Zahl der in Wien wohnhaften Ausländer nur noch 53.000. Davon waren rund zwei Drittel oder 35.000 mit ungeklärter und unbekannter Staatsbürgerschaft, vor allem volksdeutsche Flüchtlinge, die noch nicht die österreichische Staatsbürgerschaft erlangt hatten. Ein Großteil der Flüchtlinge der Nachkriegsperiode erwarb in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft, bis zum Jahr 1954 etwa 80.000 Personen.
Ungarn
Nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch die Sowjetarmee flüchteten rund 180.000 Menschen aus Ungarn nach Österreich. Viele dieser Ungarn-Flüchtlinge wurden von den USA und Kanada aufgenommen, rund 18.000 ließen sich in Österreich nieder. Am 4. Dezember 1956 waren 6.516 Flüchtlinge in Wien behördlich untergebracht, davon zwei Drittel durch private Organisationen.
Tschechoslowakei
Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer-Pakts in die damalige Tschechoslowakei 1968 flüchteten 162.000 Menschen nach Österreich. Die meisten kehrten in ihre Heimat zurück, rund 12.000 Menschen fanden in Österreich ein neues Zuhause.
Jugoslawien
Der Zerfall Jugoslawiens 1991 führte zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die viele Menschen in die Flucht trieben. Anfangs kamen rund 13.000 Menschen aus Kroatien nach Österreich, von denen viele im Frühjahr 1992 in ihr Heimatland zurückkehrten. Zeitgleich trafen die ersten Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina ein. Von den rund 90.000 Flüchtlingen, die aufgenommen wurden, blieben rund 60.000 Menschen im Land.
Bildungsniveau
Je später die derzeit in Wien ansässigen ausländischen Zuwanderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Österreich gekommen sind, desto höher war ihr Bildungsniveau. Stellten ungelernte Arbeiter und Bauern rund 30% der Zugewanderten der Periode 1963-1983, waren es 1992-1996 nur noch 5%. Diese Shift zu höherer Berufsbildung erklärt sich aus dem rückläufigen Anteil der türkischen Zuwanderer, die über die gesamte Periode den höchsten Anteil an ungelernter bzw. bäuerlicher Bevölkerung stellten. Jeder vierte türkische Zuwanderer war dieser Kategorie zuzuordnen. Die beste Ausbildung besaßen Zuwanderer aus Polen. Fast jeder Dritte war Angestellter oder Beamter und ein weiteres Drittel befand sich in schulischer oder universitärer Ausbildung. Ebenso wiesen die bosnischen Flüchtlinge, bei denen Facharbeiter in fast 40% der Fälle vertreten sind, ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau auf.
Literatur
- Andreas Weigl, "Unbegrenzte Großstadt" oder "Stadt ohne Nachwuchs"? Zur demographischen Entwicklung Wiens im 20. Jahrhundert, in: Franz X. Eder, Peter Eigner, Andreas Resch, Andreas Weigl, Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft, Bevölkerung, Konsum (=Querschnitte 12), Studien Verlag, Innsbruck [u.a.] 2003, S. 141-200, hier S. 155-158.
- Andreas Weigl, Migration und Integration. Eine widersprüchliche Geschichte (= Österreich – Zweite Republik 20), Studien Verlag, Innsbruck-Wien-Bozen 2009, hier S. 23-34.