Arbeiterfußball
Unter Arbeiterfußball versteht man im engeren Sinn den vom Herbst 1926 bis Februar 1934 betriebenen Spielverkehr von Amateurfußballmannschaften der „Freien Vereinigung der Amateur-Fußballvereine Österreichs“ (VAFÖ), die im „Roten Wien“ insgesamt sieben Meisterschaften und acht Cupbewerbe austrug, und außerdem Verbands-, sowie Bundesländer- und Städteauswahlen für den internationalen Spielverkehr stellte. Die österreichische VAFÖ-Auswahl errang die Goldmedaille bei der sog. „Arbeiter-Olympiade“ 1931.
Freizeit und Fussball erreichen die Arbeitermilieus der Vorstädte
In seinen Anfängen in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts war der Fußball in Wien noch eine Freizeitbeschäftigung bürgerlicher, von britischen Expatriates teils gebildeter, teils unterstützter und/oder inspirierter Zirkel. Die Soziotope der frühen Vereinsgründungen, Vienna und Cricketer (beide 1894), Wiener FC (1896) und WAC (1897) belegen die damalige Dominanz des bourgeoisen Elements nach dem Vorbild der britischen „sportsmen“.
Sportausübung war lange jenen vorbehalten, die keine schwere körperliche Arbeit verrichten mussten und zudem über genug arbeitsfreie Zeit verfügten, eben den Ausübenden „bürgerlicher“ Berufe. Mit der industriellen Arbeitsteilung und der Einführung der Sonntagsruhe (Gewerberechtsnovelle 1885) traf dies nun auch vermehrt auf Industriearbeiter, Kleingewerbler, Handwerker und Tagelöhner zu, der Arbeitersport entstand. Abseits dieses, an der sozialdemokratischen Ideologie orientierten Sportbetriebs (zunächst wurden vor allem Turnen, Radsport und Schwerathletik betrieben) begann schon vor 1900 in den Vororten (Favoriten, Floridsdorf, Meidling und der Schmelz zwischen (Ottakring, Rudolfsheim, Fünfhaus und Breitensee) die Popularisierung und Proletarisierung des Fußballspiels durch „wilde“ Teams und Klubgründungen, deren Aktive und Anhänger sich meist aus den lokalen, oft von (tschechischen) Zuwandererfamilien geprägten Arbeitermilieus rekrutierten. Der erste dieser Klubs war der 1897 gegründete „Erste Wiener Arbeiter Fussball-Club“, aus dem 1899 der SK Rapid hervorging. Dass ein Verein diesen Namens gerade auf der Schmelz entstand, war kein Zufall, waren doch die Bezirke rundum bereits seit Jahrzehnten Orte der kulturellen Selbstfindung der Arbeiterschaft: 1864 war in Fünfhaus die erste Konsumgenossenschaft von Wiener Arbeitern, der „Arbeiter-Spar- und Konsumverein“, entstanden, 1867 folgte in Rudolfsheim der erste legale Wiener Arbeiterbildungsverein, etwas später bestand dortselbst der „1. Wiener Arbeiter-Musikverein“, 1886 wurde von Franz Schuhmeier in Ottakring der „Raucherklub „Apollo“, die Keimzelle der Ottakringer Sozialdemokratie, gegründet, und schließlich 1899 dortselbst auch der „Verband der Radfahrvereine Österreichs“ (heute ARBÖ).
Vorstadtfußball und rotes Sportideal – eine Ambivalenz
Ungeachtet des namentlichen Bekenntnisses zur Arbeiterbewegung waren die Funktionäre und Gönner Rapids, wie auch der anderen Vorstadtklubs aber in der Regel Bürgerliche „vom Grund“ (Gastronomen, Gewerbetreibende, ja sogar Fabrikbesitzer), welche die von ihnen geleiteten und finanzierten Vereine bald nicht nur als sportlich, sondern auch wirtschaftlich aufstiegsorientierte Gemeinwesen verstanden, und sich in dieser Hinsicht von den Managern der als „bürgerlich“ etikettierten Klubs Vienna, Cricketer (bzw. deren Abspaltung Amateur SV (seit 1926 Austria) und WAC (bzw. dessen Abspaltung Wiener Association FC (WAF) kaum unterschieden. Besonders gilt das für die spielstarken unter den Vorstadtvereinen, allen voran Rapid (seit Juni 1903 in der höchsten Spielklasse), aber auch den Ersten Simmeringer Sport-Club (gegr. 1900), Rudolfshügel (1902) aus Favoriten, oder den FAC (1906) aus Floridsdorf, die allesamt, gemeinsam mit den oben genannten „bürgerlichen“ Klubs, in der Saison 1911/1912 an der ersten österreichischen Meisterschaft 1. Klasse teilnahmen. Obwohl es also persönliche Überschneidungen und wohl auch ideologische Sympathien zwischen den Vorstadtvereinen und der Arbeiterbewegung gab (viele Mitglieder und Anhänger waren auch „Parteigenossen“), waren die genannten Klubs selbst weit davon entfernt, als Umfeldorganisationen der Sozialdemokratie zu agieren. „Arbeiterklubs“ im engeren Sinn, d.h. von Arbeitern gegründete und betriebene Vereine mit einem personellen und strukturellen Nahverhältnis zum doktrinären Arbeitersport, gab es wenige, und wenn doch, dann waren das kleine, unterklassige Vereine.
Die ambivalente Haltung der großen Klubs mit Wurzeln in den vorstädtischen proletarischen Milieus zu den Idealen des Arbeitersports war auch durch die Statuten des Österreichischen Fußballverbands (ÖFV) bedingt, zu denen sie sich als Verbandsmitglieder verpflichten mussten, um am Ligabetrieb teilnehmen zu können. Diese Satzungen schlossen unter anderem politische Positionierungen dezidiert aus. Die zunehmende Popularität, Medialisierung und Kapitalisierung des Wiener Fußballs bzw. damit einhergehende steigende Einnahmen stellten schon vor dem Ersten Weltkrieg erstmals auch das Ideal des Amateurismus in Frage: Ab der Saison 1902/1903 gab Felix Schmal (unter anderem Gründer und Aktiver des Sportclubs „Training“ (1896) und ÖFU-Funktionär) das „Fußball-Jahrbuch für Österreich(-Ungarn)“ heraus, ab 1905 auch die Wochenzeitung „Illustriertes (Österreichisches) Sportblatt“, die schwerpunktmäßig über das Fußballgeschehen berichtete, um nur zwei einer wachsenden Anzahl von Publikationen zu nennen. Und beim letzten Länderspiel in Friedenszeiten zwischen Österreich und Ungarn wurden am 3. Mai 1914 auf dem WAC-Platz genau 19.627 zahlende Zuschauer gezählt, ein neuer Besucherrekord, der zeigt, dass Fußball bereits Breitenwirkung entfaltet hatte. Schon damals begannen auch die großen Vorstadtklubs Spieler verdeckt zu bezahlen oder mit Geldversprechen von anderen Vereinen abzuwerben, obwohl auch das die Statuten des sich zum Amateurismus verpflichtenden ÖFV verboten.
Amateurismus gegen Professionalismus
1919 versammelten sich die Arbeitersportvereine aller Zweige unter dem sozialistischen Dach des „Verbands der Arbeiter- und Soldatensportvereine“ (VAS), der sich 1924 zum „Arbeiterbund für Sport und Körperkultur in Österreich“ (ASKÖ) umbenannte. Nur der Fußballsport blieb im überparteilichen ÖFV organisiert, der weiterhin alle Bewerbe ausrichtete, wobei der Arbeiterbewegung verbundene Klubs zusätzlich zu ihrer Mitgliedschaft im ÖFV auch dem VAS beitraten. Von den Vereinen der obersten Spielklasse der Saison 1918/1919 taten dies der FAC, die Admira, Rudolfshügel, Hertha, Wacker und Simmering; bezeichnenderweise aber nicht der damals erfolgreichste der Vorstadtvereine, Meister Rapid.[1] In den frühen 1920er-Jahren entwickelten sich im ÖFV zwei Lager: auf der einen Seite jene wenigen, aber sportlich bestimmenden und finanzstarken Klubs, die mit dem Fußball als moderner populärer Massenkultur Geschäfte machten (höhere Einnahmen durch neue große Stadien mit Bandenwerbung, Auslandstourneen, Medienpräsenz durch Starspieler (wie Rapids Uridil); auf der anderen Seite die vielen kleinen Vereine, denen zum Geschäftemachen die Mittel fehlten, und/oder die sich der Doktrin des Arbeiterfußballs verschrieben und die Professionalisierung und Kapitalisierung ablehnten.
Als die Wiener Spitzenklubs unter dem Einfluss von Hugo Meisl im Sommer 1924 als Vorreiter in Kontinentaleuropa den Professionalismus durchsetzten, den der VAS ablehnte und der für die finanzschwächeren Klubs außerdem zusätzliche Belastungen durch Spielergehälter brachte, kam es zum Bruch, in dessen Folge die stimmenstärkere Fraktion der kleinen Vereine sich durchsetzte, und die Klubs der ersten, zweiten und der 1925 neu gegründeten dritten Wiener Profiklasse im Frühjahr 1926 aus dem ÖFV austraten. Postwendend gründeten diese den „Allgemeinen Österreichischen Fußballbund“ (AÖFB, heute ÖFB), und führten ihre Profibewerbe unter diesem Dach fort. Der ÖFV wurde in „Freie Vereinigung der Amateur-Fußballvereine Österreichs“ (VAFÖ) umbenannt und in den VAS eingliedert, der nun seinerseits die letzten verbliebenen Mitglieder ausschloss, die dem Professionalismus treu geblieben und auch zum AÖFB gewechselt waren.
1926-1934 – Arbeiterfußball im Roten Wien
Die VAFÖ wendete sich nicht nur gegen das Berufsspielertum, sondern stellte im Sinne des sozialdemokratischen Sportideals auch das Kollektiv über den Einzelnen, weshalb auch Starkult, Rückennummern und die namentliche Nennung der Torschützen abgelehnt wurden. Außerdem untersagte die VAFÖ ihren Vereinen Spiele gegen Profiklubs. Trotzdem kam es immer wieder vor, das Profivereine ihre Stadien für Großereignisse des Arbeiterfußballs zur Verfügung stellten (unter anderem die Hohe Warte (Österreich-Deutschland, 18. April 1927, 25.000 Zuschauer) oder die Hütteldorfer Pfarrwiese (Wien-Metallarbeiter Ukraine, 16. Oktober 1926, 13.000). 1927 zählte die VAFÖ bereits 403 Vereine mit rund 10.000 Mitgliedern und verfügte über ein eigenes Verbandsorgan, den "Amateur-Fußball". Auch mussten mehrere Profiklubs aufgrund von Finanznöten wieder zum Amateurismus zurückkehren und schlossen sich der VAFÖ an (FavAC 1926, Rudolfshügel 1928).
Die Vereinigung verpflichtete sich zur Förderung des Arbeiterfußballs auf Amateurbasis, richtete zwischen 1925/1926 (inoffiziell, ab 1926/1927 offiziell) und 1933/1934 (Bewerb nicht beendet) in allen Bundesländern Meisterschaften (in Wien hießen die obersten Spielklassen „1. Klasse West“ und „1. Klasse Ost“ (bis 1928), danach 1. Klasse), und eingeschränkt auch Cupwettbewerbe aus (in Wien abwechselnd: Cup des 1. Mai, Wiener Cup, Ligacup, Pokal des 12. November). Die erfolgreichsten Wiener VAFÖ-Klubs waren die Westwiener Vereine Gaswerk VIII/St. Veit (Meister 1930/1931, 1931/1932, 1932/1933), Red Star (Meister 1926/1927 und 1928, Cupsieger 1927/1928 und 1928/1929) und Helfort (Meister 1929/1930, Cupsieger 1933).
Auch bildete die VAFÖ Verbands-, sowie Bundesländer- und Städteauswahlen. Erstere vertraten den österreichischen Arbeiterfußball mit großem Erfolg bei internationalen Arbeiterturnieren (etwa als Sieger des Vierländerturniers Antwerpen bzw. des Länderturniers Riga 1930). Der bedeutendste Erfolg der VAFÖ-Auswahl ist aber der Sieg bei der Arbeiterolympiade („Arbeiterweltspiele“) 1931, als man im Finale eines Turniers mit 14 Teilnehmerstaaten am 26. Juli 1931 vor 60.000 Zuschauern im soeben eröffneten Wiener Praterstadion gegen Deutschland mit 3:2 gewinnen konnte. Österreich spielte mit Spielern von Gaswerk (4), SC Siebenhirten (3), Brigittenauer ASC, Donau, Elektra und Technische Union. Häufigster Wiener Austragungsort der Länderspiele war der Karl-Volkert-Platz des SC Red Star (heute 15., Vogelweidplatz). Mitunter zog dabei auch der Arbeiterfußball in Wien jene Massen an, die man von den Profimatches gewohnt war. Die höchste Zuschauerzahl erreichte ein Städtespiel der Arbeiter Wiens gegen Budapest im Rahmen der 1. Mai-Feier 1933, das 63.000 Menschen ins Wiener Praterstadion lockte.
Ende im Austrofaschismus
Mit Beginn des Bürgerkriegs am 12. Februar 1934 und dem folgenden Untergang des „Roten Wien wurden alle sozialdemokratischen Strukturen aufgelöst (oder wie der VAFÖ als Verbandshülle ohne Vereine bedeutungslos gemacht), die laufenden Meisterschafts- und Cupbewerbe (Cup des 1. Mai) abgebrochen. Zahlreiche VAFÖ-Klubs wurden zumindest vorübergehend liquidiert, das vorhandene Klubvermögen beschlagnahmt (etwa beim Rennweger SV 1901. In manchen Fällen, wie etwa beim SC Rudolfshügel, wechselten die Spieler zu einem weiter bestehenden Klub der Nachbarschaft. Die meisten Vereine traten aber im Laufe des Jahres 1934 dem Wiener Fußballverband (WFV) bei und nahmen in der Saison 1934/1935 wieder am Spielbetrieb teil (zum Beispiel Helfort). Manche Klubs stiegen auch (un-)freiwillig wieder ins Profigeschäft ein (unter anderem der FavAC), das selbst aber mit dem „Anschluss“ Österreichs an den NS-Staat im März 1938 ein vorläufiges, formales Ende finden sollte.
Literatur
- Hubert Dürr: Die Sozialgeschichte des Fußballspiels in Österreich (1896 bis 1911). Diplomarbeit. Universität Wien. Wien: 1990
- Domenico Jacono: Religion Rapid. Die Geschichte der Anhänger des SK Rapid Wien. Göttingen: Werkstatt (in Arbeit)
- Josef Huber: 75 Jahre Wiener Fußball Verband. Die Geschichte des Wiener Fußballs. Wien: WFV 1998
- Wolfgang Maderthaner u.a. [Hg.]: Die Eleganz des runden Leders. Wiener Fußball 1920-1965. Wien: Die Werkstatt 2008
- Matthias Marschik: "Wir spielen nicht zum Vergnügen". Arbeiterfußball in der Ersten Republik. Wien: Vlg. f. Gesellschaftskritik 1994
- Matthias Marschik: Vom Herrenspiel zum Männersport. Die ersten Jahre des Wiener Fußballs. Wien: Turia und Kant 1997
- Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950. Bd. 10 (Lfg. 48). Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften 1992, S. 226 (Schmal)
Quellen
Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung: V6/128: Länderspiel der Arbeiterfußballer Österreich - Ungarn (3:1), ein Spiel um die Europameisterschaft, Favoritner AC-Platz, 8. Jänner 1933 |
Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung: S1/432: 2. Arbeiterolympiade, Wien 19.-26. Juli 1931, Bild aus der gleichnamigen Broschüre: Das neue Wiener Stadion |
Weblinks
- Österreichische Fußballdatenbank Austria Soccer] [Stand 03.08.2016]
- Weblexikon der Sozialdemokratie] [Stand 03.08.2016]
Einzelnachweise
- ↑ Sport Tag-Blatt, 17. März 1920, S. 2